Verfassungsschwindel
»Und wenn das hundertmal in der Reichsverfassung steht – hier in der Anstalt bin ich die Verfassung!«
Auf meinen Angriff gegen die neurepublikanische Verlogenheit hat mir – neben vielen andern – ein Reichsbannerführer einen vornehmen und sachlichen Entgegnungsbrief geschrieben, worin er mir erklärt, warum das Reichsbanner zur deutschen Verfassung steht. Der Verfassungstag liege zwar in den Schulferien, verhinderte also so die wichtigste Propaganda: nämlich die republikanische Beeinflussung von Kindern – aber das mache nichts. »Wir stehen und fallen mit dieser Verfassung.« Na, da fallt man.
Eine Verfassung ist, so sie diesen Namen überhaupt verdient, der Extrakt aller Grundgesetze, staatlicher Einrichtungen, wichtigster Praxis des Landes. Diese da ist ein Hütchen, das sich ein gänzlich ungewandelter Koloß spaßeshalber aufs linke Ohr setzt – eine Papiertüte zum politischen Bockbierfest und für höhere Feiertage. Bei der Arbeit nimmt man sie ab.
Denn nicht eher ist an eine ehrliche Wandlung Deutschlands zu glauben, als bis diese Wandlung sich da zeigt, wo sie am allerschwersten durchzusetzen ist: in den kleinen Zellen der Gemeinschaft, im Dorf, im Schulzenamt, in der Reichswehrkompanie, im Konferenzzimmer der Schule, im Direktorialzimmer der Fürsorgeanstalt – da, nicht in der Verfassung. Da, nicht im Oberbau des Reichs, pulst das Leben, schlägt der Takt des Daseins, da leben und leiden Menschen – nur da. Und wie sieht es da aus –?
Ungewandelt.
Für den Häftling ist sein Gefangenenwärter und der Direktor die Reichsverfassung; für den Fürsorgezögling: der Leiter der Anstalt; für den Referendar: der Amtsrichter der ersten Station und später irgendein Landgerichtspräsident – höher hinauf reicht ihrer aller Erleben nicht, und ein sogenannter republikanischer Minister in Berlin kann die in Gumbinnen nicht trösten. Tatsächlich ist die Autorität der sabotierenden, autokratischen, wilhelminischen, größenwahnsinnigen Beamten und Vorgesetzten aller Art nicht gebrochen, sondern gestärkt.
Hier zeigt sich die ganze Machtlosigkeit der gutwilligen und die ganze Macht der böswilligen Republikaner. Staatsformen sind viel eher diskutierbar als die wirkliche Reform auf einem Gutshof, und eher kann man den berüchtigten Ebert-Artikel 48 der Reichsverfassung ändern als die Machtvollkommenheit eines Gutsinspektors oder eines Anstaltsarztes. Wer das am wenigsten von allen einsieht, ist diese Volksvertretung, die so ganz in ihren lächerlichen Geschäftchen aufgeht.
Man frage einmal einen ausgekochten Parlamentarier, was er denn so im Laufe seiner Amtszeit zur Verbesserung des bejammernswerten Loses derer getan habe, die das Unglück hatten, der deutschen Justiz in die Hände zu fallen. Wenn wirklich einmal, wie in diesem Jahr, von Parlamentariern eine Besichtigungsreise durch die Gefängnisse unternommen wurde, so war die halbe Wirkung selbstverständlich von vornherein sabotiert: die Reise war angekündigt. Kein Volksvertreter hat das Recht, unangemeldet ein Gefängnis zu inspizieren. Also hat er praktisch nur die halbe Möglichkeit, Mißstände aufzudecken. Diese Reise, zum Beispiel, ergab die widerlichsten, die schlimmsten und abscheulichsten Mißstände, anerkannt von Demokraten, ja, selbst von Sozialdemokraten: unmögliche hygienische Zustände; Schikanen höherer Beamter, die nicht dulden, dass Leute aus überfüllten, stinkenden, alten Gefängnissen in modernere Häuser, die halb leer stehen, überführt werden; völlige Straflosigkeit solchen Tuns; unnütze und sinnlose Quälereien der Sträflinge … Was wird nun geändert? Die Volksvertreter treten in Erwägungen ein, und die Eingesperrten abends wiederum in die nach Fäkalien duftende Zelle. Schade, dass man sie nicht austauschen kann.
Im kleinen Kreis Revolutionen durchzuführen: erst das wäre wirklich eine Umwälzung. Die kleine Gruppe ist viel starrer organisiert; ihre Machtverhältnisse sind einfacher aufgebaut, drücken sich täglich und stündlich bei allen Handreichungen aus und werden ängstlich innegehalten. Der Justizminister kann bei einer Kompetenzstreitigkeit schon einmal nachgeben; der Kompaniefeldwebel unter gar keinen Umständen.
Und er gibt auch nicht nach.
Zwei Stunden vor den Toren Berlins treten die Gutsarbeiter morgens zum ›Appell‹ an; drei Stunden von der Wilhelmstraße entfernt pfeift alles auf wahre Demokratie. Und manchmal braucht man gar nicht einmal so weit zu gehen. Der kleine Machthaber, unerbittlich, ungewandelt, viel gefährlicher noch als der große, vereint in sich alle schlechten Eigenschaften dieses Landes: Herzlosigkeit, Brutalität, wo sie nichts kostet, sechserhaftes Nerotum … sie sind alle noch da.
Und werden es bleiben, bis aus unsern ›Realpolitikern‹ Politiker der Realität geworden sind: Männer, die einsehen gelernt haben, dass man das Dorf reorganisieren muß, wenn man ein Land umwälzen will – dass Wandlung nicht oben, sondern unten, nicht außen, sondern innen zu beginnen hat. Erst dann werden wir anstelle dieser lächerlichen Fassadenrepublik eine echte haben können: über Akademieklüngel, Examenskommissionen, Personalreferenten, Baupolizeistellen, Konzessionserteiler, Ämterverleiher siege der republikanische Gedanke.
Wenn er einer ist.
Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 26.10.1926, Nr. 43, S. 646.