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Der neudeutsche Stil

Leser mit einem ausrasierten Vollbart besinnen sich vielleicht auf Leo Berg, den ungewöhnlich gebildeten und begabten Kritiker aus dem Anfang des Jahrhunderts, der unter anderm einen grimmen Kampf mit Wilhelm Bölsche, dem Pächter des Liebeslebens in der Natur, geführt hat. Dem warf er rechtens neben der Verlogenheit seiner Embryonal- und Ei-Lyrik auch seinen Stil vor, oder vielmehr: natürlich seinen Stil vor, da ja eins aus dem andern, der Stil aus der Gesinnung hervorgegangen war. Beschäftigt man sich heute mit vergilbten Büchern und Tagesbroschüren des fin de siècle, so muten einen die Terminologie, das Vokabularium, die Ausdrucksweise unsäglich komisch an. Kunst bleibt. Mode von gestern ist lächerlich.

Manche ist schon heute von gestern. Da bekomme ich ein Buch zugeschickt: ›Girlkultur‹ von Fritz Giese; das Buch trägt den Untertitel: ›Vergleiche zwischen amerikanischem und europäischem Rhythmus und Lebensgefühl‹. Der Verfasser, ein beachtenswerter, sauberer Schriftsteller, der gute Bücher geschrieben hat, so ein mustergültiges über Kinderpoesie, hat dieses Mal in einen bösen Topf mit Schleim gegriffen: in den modernen Literatenjargon.

Aber er ist einer von Hunderten. Nachdem ich mir die schönen und interessanten sechsundfünfzig Fotografien angesehen habe, fange ich an zu lesen und erkenne einen Stil, der einer ganzen modischen Schule gemeinsam ist, und ich lese und lese und gebe es, erschöpft, dreiunddreißigmal wieder auf und fange von neuem an und werde ohnmächtig hinausgetragen …

Und ich würde, schon des mir bekannten Autors wegen, schonungsvoll über dieses Malheur schweigen, wenn nicht fast alle so schrieben, in Zeitungen, Büchern und Zeitschriften; wenn es nicht eine verdammte Unsitte wäre, solche überfütterten Sätze auch noch zu sprechen; wenn nicht dieser Stil Allgemeingut wäre, so aufgequollen, so übermästet, mit solchen Stopflebern im Hals. Vom Clown Edschmid wollen wir gar nicht reden. »Von einer Unanständigkeit und einer Wiederbelebung mittelalterlicher Dichtheit und Kompaktheit der Formung, die an Squenz und Straparola erinnert, und die ich in der Fülle der Muskulatur der Phantasie heutigen Deutschen nicht zugetraut.« Soweit über einen Sechserhumoristen; aber das ist noch gar nichts. Die ganze Klasse mauschelt schon.

Die Kennzeichen des neudeutschen Stils sind: innere Unwahrhaftigkeit; Überladung mit überflüssigen Fremdwörtern, vor denen der ärgste Purist recht behält; ausgiebige Verwendung von Modewörtern; die grauenhafte Unsitte, sich mit Klammern (als könne mans vor Einfällen gar nicht aushalten) und Gedankenstrichen dauernd selber – bevor es ein anderer tut – zu unterbrechen, und so (beiläufig) andere Leute zu kopieren und dem Leser – mag er sich doch daran gewöhnen! – die größte Qual zu bereiten; Aufplusterung der einfachsten Gedanken zu einer wunderkindhaften und gequollenen Form.

Im Anfang war das Problem. Was mit diesem Wort in Deutschland zur Zeit für ein Unfug getrieben wird, spottet jeder Beschreibung, die wahrheitsgetreu angeben müßte, dass dieser verblasene Ausdruck nun zum Glück auf die gebildeten Köchinnen heruntergekommen ist. Eine illustrierte sozialdemokratische Zeitschrift beschrieb neulich in Bildern, wie junge Lehrer in einem Heim ausgebildet werden. Fotografie: die jungen Leute unterhalten sich, Butterbrot essend, vor der Tür. Unterschrift: Pausenprobleme. »Na jewiß doch«, sagt Hauptmanns Schiffer Julian Wolff, »Da soll er man immer machen, det er hinkommt –!«

Der gesamte neudeutsche Stil wimmelt von ›Problemen‹. Das ist ein Modewort genau wie: Einstellung, Symptom, gekonnt, Absenkung, Überbau – was diese beiden bedeuten, ahne ich nicht – und: irgendwie … Dieses ›irgendwie‹ heißt überhaupt nichts; man kann es einfach weglassen, ohne dass sich der Sinn des Satzes ändert, es drückt nur die Schludrigkeit des Autors aus, der zu faul war, scharf zu formulieren.

Die Wandervögel, die Kunsthistoriker, die Tanzphilosophen, die Nationalökonomen verfügen jeweils über einen schönen Vokabelschatz von Modewörtern, die man, ohne Unheil anzurichten, beliebig durcheinanderwerfen kann. Kaum ein Gedanke wird durchgeführt, ohne dass der gebildete Autor drei andere einschiebt. Alles wird angeschlagen, nichts wird zu Ende gedacht, die ›Komplexe‹ häufen sich, und wie verdeckte Bleikessel werden Begriffe, Personen, Anspielungen herumgereicht. Man höre sich das an: »Wir haben niemals Optimismus kultiviert. Niemals kannten wir jene Einstellung, die das Lachen will.« Und: »Dieses Lachen ist eine Haltungsweise, die zwei andere Möglichkeiten differenzieren läßt.« Heiliger Simmel! Man kann gewiß nicht alles simpel sagen, aber man kann es einfach sagen. Und tut man es nicht, so ist das ein Zeichen, dass die Denkarbeit noch nicht beendet war. Es gibt nur sehr, sehr wenige Dinge in der Welt, die sich der glasklaren Darstellung entziehen. Hier ist Schwulst Vorwand. Mensch, sag Problem–!

Und hast du es gesagt: dann laß den Artikel weg. Sag nicht: »Die Auswanderung ließ nach.« Wo kämen wir da hin! Sag: »Emigration ist ein völkergeschichtliches Problem, dessen Diminution zu dieser Epoche ein beachtliches Phänomen darstellt.« Und sag immer dazu, in welche Wissenschaft das gehört, was du gerade erzählst, sag: »Wir haben also zwei rhythmische Erlebnisse heute, und es fragt sich dann nur rein erzieherisch, ob wir … « Haben Sie sich schon mal rein erzieherisch gefragt? Ich nicht.

Der Ursprung dieser dritten schlesischen Dichterschule fällt ungefähr in die Zeit des Krieges. War damals ein ›Exposé‹ zu verfertigen, so hatte der reklamierte Reservehauptmann das größte Interesse daran, seinen Pflichtenkreis so weit wie möglich zu schlagen, und wenn er Bohnen anforderte, sprach er bombastisch wie ein Narr von Shakespeare. Statt dass die Literatur den gesunden Menschenverstand der Kaufleute annahm, wurden die Schleichhändler zu Philosophen, und es gibt heute in Deutschland kaum einen längern Geschäftsbrief, worin nicht eingestellt und tendiert und symptomatisiert wird. Es ist einfach eine Modesache; wer früher von Blauveiglein sang, der sagt heute: »Die Elemente unserer naiven Menschenvorstellung sind in dieser Kunst zu Gebilden einer höhern Organisationsstufe umgewandelt.« Früher Baumbach – heute: »Geistige Ebene der Tiefenschicht.« Dieser Stil läuft von ganz allein; man braucht nur einige dieser abstrakten Begriffe aufs Rad zu setzen, und das Rennen geht vor sich. Und alle diese Rennbrüder zusammen fallen wohl unter die Erklärung Knut Hamsuns:

»Die Literatur schwoll an. Sie popularisierte die Wissenschaft, behandelte die sozialen Fragen, reformierte die Institutionen. Auf dem Theater konnte man Doktor Ranks Rücken und Oswalds Gehirn dramatisiert sehen, und in den Romanen war noch freierer Spielraum, Spielraum sogar für Diskussionen über fehlerhafte Bibelübersetzung. Die Dichter wurden Leute mit Ansichten über alles; die Menschen fragten sich untereinander, was wohl die Dichter über die Evolutionstheorie dächten, was Zola über die Erblichkeitsgesetze herausgefunden, was Strindberg in der Chemie entdeckt habe. Daraus ergab sich, dass die Dichter zu einem Platz im Leben aufrückten, wie sie ihn nie vorher innegehabt hatten. Sie wurden Lehrer des Volkes, sie wußten und lehrten alles. Die Journalisten interviewten sie über den ewigen Frieden, über Religion und Weltpolitik, und sobald einmal in einer ausländischen Zeitung eine Notiz über sie stand, druckten die heimischen Blätter sie sofort ab, zum Beweis, was ihre Dichter für Kerle wären. Schließlich mußte ja den Leuten die Vorstellung beigebracht werden, dass ihre Dichter Weltbezwinger seien, sie griffen übermächtig in das Geistesleben der Zeit ein, sie brachten ganze Völkerschaften zum Grübeln. Diese tägliche Prahlerei mußte natürlich zuletzt auf Männer, die schon vorher Hang zur Pose gehabt hatten, wirken. Du bist ja ein wahrer Teufelskerl geworden! sagten sie wohl auch zu sich selbst. Es steht in allen Blättern, und alle Welt sagt es, also ist es wohl so! Und da die Völker niemand andern dazu hatten, so wurden die Dichter auch Denker, und sie nahmen den Platz ein, ohne Widerspruch, ohne ein Lächeln. Sie hatten vielleicht so viel philosophische Kenntnisse, wie jeder notdürftig gebildete Mensch hat, und mit dieser Grundlage stellten sie sich also auf ein Bein, runzelten die Stirn und verkündeten dem Zeitalter Philosophie.«

Und in welcher Form! Geschwollen, stuckbeklebt, behängt von oben bis unten. Giese, der übrigens nicht alle herangezogenen Beispiele verschuldet hat: »Als soziologisches Kräfteverhältnis erinnert Amerika etwas an deutsches Mittelalter.« Daß nicht die Küchen beider Länder und Epochen verglichen werden sollen, geht aus dem Buch klar hervor. Die Worte »als soziologisches Kräfteverhältnis« sind also nichts als gespreizte Wichtigmacherei.

Führt man das verdreht gewordene Vokabular der Essayisten auf seine Elemente zurück, so bleiben etwa hundertunddrei Vorstellungen, die immer wiederkehren, immer wieder: Rhythmus und Genius und Typus und Apperzeption und Freud und falsch verstandene Salonhistorie und ein Spiel mit halbem Wissen, das verlogen ist bis in seine Grundtiefen. Begabte Oberprimaner. Und sie sehen es noch nicht einmal, was sie da anrichten! »Man wird der geistigen Jugend von heute einmal alles Mögliche absprechen können, man wird ihr jedoch zubilligen müssen, dass sie schärfer als je eine frühere auf phrasenlose Wahrheit drang, und dass sie an nichts so wenig zu wünschen übrig ließ wie an Wirklichkeitssinn.« Der sieht so aus: »Wahrheit ist an sich Zielhaftes. Wir gehen unter dem Zügelband des Gewissens nicht in voller intellektueller Freiheit auf sie zu. Der, der die Wirklichkeit liebt, bleibt dagegen am Ort. Er hat nur die Funktion der Erkenntnis. Sein äußerstes Los ist das des gebärenden Gestalters: nämlich aus dem empfangenden Schauenden Nachschöpfer des Hingenommenen, Sichtbarmacher und Sinnlichträger der erfaßten herrenhaften Substanz der Weltenbilder zu werden.«

Also spricht der Weise:

»Statt auf jede Weise berühmt zu seyn, seinem Leser deutlich zu werden, scheint er ihm oft neckend zuzurufen: ›Gelt, du kannst nicht rathen, was ich mir dabei denke!‹ Wenn nun jener, statt zu antworten: ›Darum werd‹ ich mich den Teufel scheeren' und das Buch wegzuwerfen, sich vergeblich daran abmüht, so denkt er am Ende, es müsse doch etwas Höchstgescheutes, nämlich sogar seine Fassungskraft Übersteigendes seyn und nennt nun, mit hohen Augenbrauen, seinen Autor einen tiefsinnigen Denker.« Und: »Nun, da wird die arg- und urtheilslose Jugend auch solches Zeug verehren, wird eben denken, in solchem Abrakadabra müsse ja wohl die Philosophie bestehn, und wird davongehen mit einem gelehrten Kopf, in welchem fortan bloße Worte für Gedanken gelten, mithin auf immer unfähig, wirkliche Gedanken hervorzubringen, also kastriert am Geiste.« Sowie: »Als einen belustigenden Charakterzug des Philosophierens dieser Gewerbsleute habe ich schon oben bei Gelegenheit der ›synthetischen Apperzeption‹ gezeigt, daß, obwohl sie Kants Philosophie, als ihnen sehr unbequem, zudem viel zu ernsthaft, nicht gebrauchen, auch solche nicht mehr recht verstehen können, sie dennoch gern, um ihrem Geschwätze einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben, mit Ausdrücken aus derselben um sich werfen, ungefähr wie die Kinder mit des Papas Hut, Stock und Degen spielen.«

Sich auch noch etwas auf seine Fehler einzubilden –! Giese zum Beispiel spricht von deutschen Professoren, die nach Amerika gegangen sind. »Es ist amüsant zu sehen, wie oft in diesen Professorenbüchern, etwa bei Behandlung des Lohnproblems, der der Achtstundenarbeitszeit, schüchterne Fragen und Andeutungen erfolgen, die über die Zahl, über das Formale hinausgehen wollen.« Ich weiß nicht, auf wen das zielt. Wenn er aber den Professor Julius Hirsch meint, der neulich ›Das amerikanische Wirtschaftswunder‹ hat erscheinen lassen, dann gehört ihm eins auf die Finger. Es ist gar nicht amüsant zu sehen, mit welcher Überheblichkeit ein Fremdwörterlexikon einen so kenntnisreichen, vernünftigen und klaren Mann abzutun versucht. Gebe Gott, Giese, auch Ihr Buch hätte erzieherisch-stilistisch irgendwie diese hochwertigen Tendenzqualitäten …

Das Modedeutsch der wiener und berliner Schmalzküchen mit den frech hingenuschelten ›Nebenbeis‹ und der Bildungsmayonnaise, diese künstlich hochgetriebene Hefebildung, dieser neudeutsche Stil hat wie eine Seuche um sich gegriffen. Jeder Barbier spricht von ›kulturbedingter Motorik der Neger‹, und man wird nicht glauben, wie komisch dergleichen im Jahre 1940 aussehen wird. Aber da wird es ja auch niemand mehr lesen.

Wer ist in Deutschland heute einfach? Die Schafsköpfe, Rudolf Herzog. Die treudeutschen Oberförster. Wenn sie nicht den schrecklichsten der Schrecken vollführen: die germanische Nachahmung romanischer Beweglichkeit. Aber ist es nicht eine Schande, dass die andern ›simpel‹ und ›einfach‹ verwechseln? Sie denken im Grunde nicht komplizierter als du und ich. Doch diese Knaben haben Nietzsche gelesen und falsch gelesen, und Simmel verdaut, aber halb verdaut, und Spengler ausgelacht und sich angesteckt.

Kommt hinzu, dass jeder ein Fachmann für jedes sein will, dass keiner ums Verrecken zugeben möchte, er verstehe etwa von einer Sache nichts; kommt dazu, dass sie, analog ihren Vorfahren, den wallenden Oberlehrern, in das Leben Papiermühlen voll ›rhythmischer Typen‹ hineininterpretieren, mit denen sie sich wichtig machen wollen: so darf gesagt werden, dass der neudeutsche Stil ein wahrer Ausdruck der nachwilhelminischen Epoche ist. Preußisches Barock.

Ich habe oft genug zum Spaß versucht, für französische Freunde dies oder jenes aus solcher Literatur ins Französische zu übersetzen, und dass es mir nicht gelungen ist, liegt sicherlich auch an mir. Aber meistens fehlte es mir nicht am Französischen, sondern an Verständnis für dieses Rackerlatein. Und dabei kommt man nicht nur zu der Erkenntnis, daß: »Was steckt an Kulturgut in ihr? Was ist bedingt daran durch ein Anderssein als wir« – dass es dergleichen im Französischen nicht gibt: man entdeckt auch rasch etwas anderes. Daß es das überhaupt nicht gibt. Und nun will ich euch einmal etwas sagen.


Als sich Emil Jannings eines Winters im Harz erholte, da saß im Hotel bei den Mahlzeiten ein piekfeines Paar: er klein und dick, aber gescheitelt vom Kopf bis zur Sohle, sie so elegant, wie sich Frau Potzekuchen Paris vorstellt. Sie sprachen wenig, hauchten nur hier und da ein paar Worte. So fein waren sie.

Und eines schönen Schneetages, als Emil gerade im Gelände umherschlenderte, da sah er sie kommen, ohne von ihnen bemerkt zu werden. Er stellte sich hinter vier Fichten, machte sich dünn, Schauspieler können alles, und wartete ab. Das Paar stapfte heran: sie voran, in hochelegantem Sweater – gute Ware! – und er hinterher, klein und dick. Und da hörte Emil zum erstenmal während seines Aufenthalts das feine Paar laut sprechen.

Sie wandte den Kopf halb herum und sagte das erlösende Wort, eines, das der ganzen Qual eines gedrückten Herzens Luft machte: »Wenn ich bloß dein dämliches Gequatsche nicht mehr anzuhören brauchte –!«

Gott segne den neudeutschen Stil.

Peter Panter
Die Weltbühne, 06.04.1926, Nr. 14, S. 540,
wieder in: Mit 5 PS.