Pars –!
Der dressierte Affe ist nun endlich ins Bett gebracht worden, er hat noch zum Juchhei aller Damen imaginär das Töpfchen benutzt, Herrgott, dass den Dresseuren auch gar nichts anderes einfällt! Die Springer sind gesprungen, die Leute am Reck haben sich gereckt, und nun haben sie einen schwarzen Samtvorhang herabgelassen, die Bühne bleibt einen Augenblick leer, das Orchester spielt hastig den kommenden Refrain … da ist sie. Keine langen Beine, die Finger, wie so oft bei Französinnen, kurz – das ganze eine erste Nummer für Dijon. Gott weiß, wer sie nach Paris engagiert hat. Sie singt.
Pars –!
Sans te retourner,
Pars –!
Sans te souvenir!
Ni mes baisers, ni mes étreintes,
En ton coeur n'ont laissé d'empreintes …
Ein Groschenlied, natürlich. Eines von denen, die unter einem runden, weißrot gestreiften Sonnenschirm auf der Straße verkauft werden, drumherum steht im Ring das Publikum und lauscht dem Orchester: Geige, Harmonika, Mann mit Megaphon und eine Frauenstimme. Sie singen es dreihundertsechzigmal am Tag – nachher verkaufen sie die Noten.
Je n'ai pas su t'aimer,
Pas su te retenir …
Pars –!
Sans un mot d'adieu,
Pars –!
Laisse-moi souffrir –
Merkwürdig, dass man das alles gar nicht übersetzen kann. »Meine Küsse nicht und nicht meine Umarmungen haben Spuren in deinem Herzen zurückgelassen … « Gut, Kammholz; nun noch mal das Ganze auf französisch … Schon: ›pars‹ – wie soll man das sagen? Geh? Schieb ab? Hinfort mit dir. Es gibt im Deutschen kein einsilbiges Wort dieser Bedeutung mit einem a, das man so schön singen könnte wie ›pars‹ –
Le vent qui t'apporta t'emporte
Et, dussé-je en mourir qu'importe
Pars –!
Sans te retourner!
Pars –!
Sans te souvenir …
Da bleibt das Lied in der Terz hängen und verhallt. Die Dame steigt in die zweite Strophe.
Ne t'excuse pas, tu n'es pas coupable …
Nein, du bist nicht schuldig! Du hast ausgehalten bis zu allerletzt – ich, ich bin schuldig, ich krummer Hund auf meinem Parkettsitz. Fremde sitzen neben mir, links ein fetter Mann, rechts ein alte Dame mit weißem Haar. Mit mir spricht niemand. Zu mir sagt keiner: »Da vorn sitzt ein neuer Bräutigam vor mir – ein ungewöhnlich schöner Junge!« Ich bin unabhängig, ein freier Mann –
Tu ne sauras pas toute ma détresse
Tout le vide affreux de ton abandon –
Gar nicht. »Die schreckliche Leere, seitdem du weggegangen bist … ?« Gar nicht. Gar nicht. Doch.
Prends dans un baiser l'ultime caresse –
Diese Moorbäder von Tröstungen, ein schmutziges Opium mit bösen Reaktionen … Nur diese Ersatzfrauen nicht wiedersehen – nur das nicht – in den fremden Augen steht eine unendlich kleine Fotografie von mir selbst, in welcher Aufmachung! In welcher Haltung! Ah, nein. Aber es ging schließlich nicht länger.
Nous ne sommes plus que des étrangers –
Aber es ging doch nicht mehr – nicht wahr, es ging doch nicht mehr weiter? Das wußten wir doch beide, nicht wahr? Noch diese Zwietracht eint – letzte Bindung: wir, wir haben uns gezankt – nein, auseinandergelebt.
Poursuis ton chemin –
Wie zwei Bahnlinien, die sich einmal gekreuzt haben, jetzt ist der eine Zug schon längst in Flandern, der andere vor Paris – aber einmal haben sie sich gekreuzt. Übrigens ist das alles ausgesprochen kindisch: in dieser riesigen, rotgoldenen Halle gibt es hundert Unglückliche, zehn Kranke, acht Entlassene, die noch keine neue Stellung haben und die nicht wissen, wie das nächsten Monat werden soll – und seinen kleinen Herzensjammer wird wohl jeder haben. Ach ja – jeder wird ihn haben, soll ihn haben – ich kann doch hier nicht allein sitzen und mich zum Narren machen. Ich bewahre aber gute Haltung, und man sieht mir gar nichts an. Pars –! Natürlich heißt das: Schieb ab.
Und nun muß dieses verfluchte Weib eine Zeile singen, eine einzige –:
Le souvenir est un chemin très long!
Eine weiche Faust schnellt von der Bühne herunter, preßt mich, würgt, mein Speichel trocknet aus, die Augen sind verschleiert … Ich schlucke. Und stehe vorsichtig auf und störe die alte Dame, der fette Mann sieht mir verwundert nach, da gehe ich auf Zehenspitzen hinaus. Sie singt:
Pars –!
Sans te retourner,
Pars –!
Sans te souvenir …
Ein Mann, der in einem kleinen Kabinett steht und heult – das ist wohl etwas hervorragend Lächerliches. Man hört noch ein ganz kleines bißchen Musik. Übrigens stirbt keiner im höchsten Schmerz. Alles arrangiert sich, es geht ein langsamer Wechsel der Zellen vor sich – und weil niemand in fortgesetzter Ekstase leben kann, verfliegen Töne und Musik und Tränen, als wären sie nie gewesen.
Peter Panter
Vossische Zeitung, 28.03.1926,
wieder in: Mit 5 PS.