Eveline, die Blume der Prärie
»Hugh!« sagte der Reichstag. »Ich habe gesprochen.«
Als der selige Brunner noch die preußische Sittlichkeit zugedeckt hielt, besuchte ich ihn einst in seinem Moralladen der Leipziger Straße. In einem schönen Zimmer des Wohlfahrtsministeriums, desselben, das für die Wohlfahrt der kranken Untersuchungsgefangenen sorgt, fand ich einen ältern, hagern Herrn, der alle unanständigen Bücher und Fotografien durchzusehen hatte, und der infolgedessen recht angegriffen aussah. Wir unterhielten uns so über dies und das, meistens über das – und so ganz nebenbei gab mir der Mann, dem die verbogenen Hemmungen zu allen Knopflöchern herausguckten, das Filmgesetz zu lesen. Und sprach dazu sein einziges vernünftiges Wort. »Sehen Sie«, sagte er, »so hat die Reichsregierung das Gesetz dem Reichstag überreicht – und in dieser Form hat es dann der Reichstag verabschiedet. Sie sehen: in wesentlich verschärfter Form.«
Das war richtig.
Aus dem ziemlich vorsichtig abgefaßten Entwurf war eine dehnbare, moral-philiströse und gefährliche Sache geworden, die ja dann auch dazu geführt hat, dass heute die Filmzensur ein politisches, selbstverständlich reaktionär geführtes Machtinstrument geworden ist. Der ›Fridericus‹- Film wurde überhaupt nicht vor dem Ausschuß geprüft – dem ›Potemkin‹-Film die größten Schwierigkeiten gemacht. Woher die Verschärfung im Reichstag –? Das wollen wir gleich sehen.
Das neue Zensurgesetz gegen unwillkommene Literatur, das im Jahre 1925 der Minister Schiele dem Reichstag unter dem Namen: ›Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften‹ vorgelegt hat, ist ein Erzeugnis, das raffinierter, gefährlicher und bösartiger in der Wirkung sein kann als jenes Zensurgesetz des Films.
Zunächst sind die Einleitungsworte des § 1: »Zum Schutze der heranwachsenden Jugend werden Schundund Schmutzschriften in eine Liste aufgenommen« eine Unwahrheit. Beabsichtigt ist nicht der Schutz der heranwachsenden Jugend – gewollt ist die Bevormundung der Erwachsenen.
Das Gesetz will den Werken, die in die ›Reichsschundliste‹ aufgenommen werden, womit nicht das Strafgesetzbuch gemeint ist, fast ganz den Weg zur Öffentlichkeit versperren. Diese Werke dürfen
von umherziehenden Kolporteuren weder feilgehalten noch angeboten noch angekündigt werden; auch dürfen von diesen Händlern keine Bestellungen angenommen werden;
Buchhändler dürfen sie in ihren Läden weder feilbieten noch ausstellen noch irgendeine Reklame für sie machen;
und nun erst – unter Ziffer 3 – wird gesagt, dass Personen unter 18 Jahren diese Werke nicht erwerben dürfen. Der vorgeschobene Schutz der ›Jugendlichen‹, wie dieses widerwärtige Wort heißt, steht also erst an dritter Stelle und ist den Inspiratoren des Gesetzes ja auch tatsächlich gleichgültig. Daß das Werk überhaupt für Kinder bestimmt oder hauptsächlich von ihnen gelesen wird, ist zur Unterdrückung nicht nötig.
Die Begründung, die, wie meistens, keine ist, gibt zu, mit diesen unerhörten Bestimmungen weit über die §§ 42a und 44 der Gewerbeordnung und die §§ 184, 2 und 184a des Strafgesetzbuchs hinausgegangen zu sein. Ein auf die Liste gesetztes Werk ist mit seiner Aufnahme in die Reichsliste tatsächlich erledigt.
Wie kommt nun so ein Buch in die Liste –?
Jedes Land hat das Recht, eine Prüfstelle zu errichten, und jedes Land kann allein das Buch für das ganze Reichsgebiet verbieten lassen! Wenn also in Thüringen fünf Männerchen der Ansicht sind, ein Buch beschmutze und beschunde die Jugend, so wird das Buch vom Handel de facto ausgeschlossen. Man lasse sich durch die amtliche Terminologie nicht täuschen: Das Buch wird vom Handel ausgeschlossen.
Das gilt auch für Zeitschriften: werden mehr als zwei Nummern innerhalb eines Jahres auf die Liste gesetzt, so kann auch diese Zeitschrift für drei Monate bis ein Jahr tatsächlich vom Handel ausgeschlossen werden.
Diese Prüfstellen nun sollen sich folgendermaßen zusammensetzen:
Ein Vorsitzender (Beamter), je ein Sachverständiger aus den ›Kreisen der Kunst und Literatur, des Buch- und Kunsthandels, der Jugendwohlfahrt und der Volksbildung‹.
Berufung gegen die Zensurfeme, nur vierzehn Tage lang möglich, geht an einen Ausschuß von Beamten, die der Minister des Innern und der Reichsrat bestimmen. Strafen: Gefängnis bis zu einem Jahr oder Geldstrafe, Einziehung der Bücher oder Zeitschriften.
Die ›Begründung‹ begründet, die bisherigen gesetzlichen Handhaben reichten zur Bekämpfung der schädlichen Schriften nicht aus: »Insbesondere aus den Kreisen der Lehrerschaft und der Geistlichkeit, der Volksbildung und der Jugendpflege ist immer wieder auf die schwere geistige und sittliche Schädigung breiter Volksschichten durch die Verbreitung der Schund- und Schmutzliteratur hingewiesen worden« – auch hätten diese Kreise angeblich immer wieder so ein Gesetz verlangt, und die Deutsche Nationalversammlung hat im Jahre 1920, weil sie damals keine andern Sorgen hatte, tatsächlich die Reichsregierung ersucht, so ein Gesetz auszuarbeiten.
Die Begründung weist dann sehr fein auf den subtilen Unterschied zwischen Schmutz und Schund hin, sagt ferner die Unwahrheit, wenn sie behauptet, die Aufstellung der Liste geschehe zentral durch das Innenministerium, während das in Wahrheit nur die Formalität erfüllt, die die gesetzlich bindenden Beschlüsse der Länder ihm auferlegen, und betont voll Freude, dass der ordentliche Rechtsweg, also die nochmalige Prüfung der Schrift vor Gericht, ausgeschlossen ist.
Ausgehängt ist dann eine erste Liste, die in sehr geschickter Weise als Köder für die sozialistischen Abgeordneten auch patriotische Hintertreppenwerke enthält: neben ›Harry Piel, der Verächter des Todes‹ und ›Eveline, die Blume der Prärie‹ finden sich: ›Unter deutscher Flagge‹, ›Von deutscher Treue‹, ›Das eiserne Kreuz‹, ›Unsre Feldgrauen‹ – und kein Werk, das etwa nach Sozialismus oder Bolschewistenverherrlichung auch nur riecht.
Dieser Entwurf ist der schärfste Angriff auf die geistige Freiheit Deutschlands, der seit Jahrzehnten verübt worden ist. Die große Zeit ausgenommen. Seit den Tagen der Generalkommandos, die das Kriegsverbrechen durch Niederknüppelung jeder kritischen Äußerung so lange verlängerten, wie ihnen das möglich war, ist Ähnliches nicht dagewesen.
Im Parlament aber wird folgendes vor sich gehen:
Wie bei dem Gesetz über die Fürstenabfindung, wie bei der schändlichen Kommissionsberatung über den neuen § 218, wo Sozialdemokraten immer munter für den Gebärzwang ihrer Arbeiterwählerinnen stimmen, wie beim Gesetz über die Filmzensur rollt sich immer, immer dasselbe Schauspiel ab:
Die G'schaftlhuberei siegt.
Die erste Liste des Entwurfs ist allein von 10 (zehn) ›Organisationen‹ unterzeichnet, von denen sich eine immer wichtiger vorkommt als die andre – wenn man nur die Namen hört, weiß man Bescheid: ›Rat für künstlerische Angelegenheiten‹ (Frankfurt am Main), ›Reichsjugendring‹ –, ohne Kompetenz, ohne dass diese Herrschaften auch nur gebeten worden sind, zu beraten, zu hüten oder zu bewahren, wirtschaftet das in Vereinen umher, um den Beamtenkoller, der sonst keine Luft bekommt, austoben zu lassen. Verhinderte Polizeipräsidenten.
Und weil nun der politische Instinkt dieses Parlaments gleich Null ist, so werden die Tölpel ›Sicherungsvorschläge‹, ›Schutzparagraphen‹, ›Milderungsbestimmungen‹ einfügen, die dann in verwaschener, kautschukhafter, dehnbarer Form aufgenommen werden, und über die ein interpretationskundiger Jurist mit Recht zur Tagesordnung seines Urteils übergeht.
Wie das aussieht, was im allgemeinen ›aus den Kreisen der Kunst und der Volksbildung‹ zur Prüfung entnommen wird, wissen wir. Es taucht dann der bekannte Schriftsteller Konrad Horst Pröppke auf, der Verfasser von ›Waldesrauschen auf Helgoland‹ sowie Frau Jugendpfleger Annemarie Silberpuntz, die die ganze versetzte Erotik ihres dickbeinigen Lebens in die Zone der Jugendpflege verlegt hat. Kurz: es wird eine Auswahl ähnlich der, wie sie bei Geschworenen üblich ist; durch ein paar amtliche Manipulationen werden Intellektuelle und Oppositionelle aller Schattierungen ihrer sogenannten bürgerlichen Ehrenrechte beraubt, mit Zuchthäuslern auf eine Stufe gestellt und gelangen niemals in einen solchen Ausschuß. Gelangen sie schon hinein und versuchen da, die allerärgsten Dummheiten zu verhindern, so sehen sie sich – wie etwa Julius Bab – aus Gewissensgründen genötigt, auszuscheiden, weil sie das nicht mehr mittun wollen und können.
Diese ›G'schaftlhuberei‹ der Vereine kann auch die Ursache für eine Verschärfung des Gesetzes sein. Das stumpfsinnige Listenwahlsystem ermöglicht heute den langweiligsten Parteisekretären, den unbedeutendsten Bonzen, den lokalsten Funktionären den Eintritt ins Parlament, und so sieht das ja auch aus. Und man muß nur sehen, wie kleinbürgerlich sich diese Geschäftigkeit aufspielt, welche Fibel- und Bilderbuchwelten sich da entrollen, wenn einmal ernsthafte Fragen der Weltanschauung aufs Tapet kommen. Die Spitzen langen etwa bis Bölsche. In ihrer Sucht, auch dabei zu sein, auch mitzuregieren, auch Gesetzgeber zu sein, werden sie mit wallender Würde die Seele der Jugend bewahren und die zarten Keime der Volksentwicklung dem Pilz der Gemütsvergiftung entreißen. Und nur eines werden sie nicht begreifen: dass sie überflüssig sind.
Dieses Gesetz ist ein frecher Eingriff in die kümmerliche Freiheit deutschen geistigen Wirkens. Es ist in Bausch und Bogen abzulehnen. Sicherheiten gegen seinen Mißbrauch gibt es nicht.
Das hehre Beispiel des kläglichen Schutzgesetzes gegen die Republik hat es gezeigt: was dieser Staat, so wie er da ist, in die Finger seiner Verwaltung bekommt, zu der die politische Justiz rechnet, ist unrettbar verloren. Diese Prüfungskammern werden sich aus lokalen Hampelmännern zusammensetzen, aus ›zuverlässigen‹ Leuten, aus gesiebten Volksschullehrern, deren man, obgleichs nicht leicht ist, die nötige Menge an Reaktionären zusammentrommeln wird, aus Roten-Kreuz-Damen, aus diesen entsetzlichen Spießerinnen der Volkswohlfahrt, die für drei Pfennige Gutes tun und dafür acht Mark an Spesen, Spektakel und moralinsaurer Wirtschaft aufwenden – aus Pastoren werden sie sich zusammensetzen und ein paar Buchhändlern, die die Konkurrenz töten wollen. Jedes im Parlament gegebene Versprechen, jedes Geschwätz in der Rede eines Ministers ist, wie der genau weiß, juristisch unverbindlich und verhallt. Es bleibt das Gesetz.
Es darf nicht bleiben, und es muß ganz und gar und bis auf den letzten Buchstaben abgelehnt werden.
Es darf nicht bleiben, weil es schon nach Monaten in der niedrigsten und politisch schmierigsten Weise ausgenutzt werden wird. Gegen wen –? Gegen uns. Gegen Pazifisten und Revolution; gegen Sozialismus und Freiheitlichkeit – nichts ist vor diesem Metternich-Gesetz sicher. Heute ist es noch ›Der Junggeselle‹ und das ›Berliner Leben‹, heute sind es noch die nackten, unwahrscheinlich dünnen Beine jener Figurinen in usum masturbantium; morgen ist es eine unwillkommene Wandervogelzeitschrift, eine Schulpublikation für revolutionär empfindende Schüler – und übermorgen sind es, woran kein Zweifel: wir.
Die bestehende Gesetzgebung reicht aus, um das in der Literatur zu verbieten, was wahrhaft schädlich und häßlich ist: die Auslegung der Paragraphen durch die Gerichte ist weit genug. Mehr brauchen wir nicht. Und mehr hieße, unter anderm, die Wirkung dieses Schundes überschätzen.
Gegen das andre da, wogegen dieser Polizeientwurf angehn will, gibt es ein Mittel, das freilich Geld kostet, der Reichswehr abzuziehendes Geld – ein Mittel, das freilich schwerer zu erreichen ist als durch Kommissionssitzungen vereinswütiger Vorstandsdamen, ein Mittel, das freilich peinlich revolutionär ist:
Die Umbildung der anarchischen Gesellschaftsform in eine, die der Jugend vor allem einmal körperliche Hilfen gibt, die ihr Licht, Luft, Wohnraum, Gesundheit verleiht, die sie vor gemeiner Ausbeutung hütet und vor Tuberkulose. Auf dieser Basis kann man dann das tun, was heute nur vereinzelt und nur unter Aufopferung von wahren Jugendpflegern gelingt, deren Arbeit kein Mensch anständig bezahlt, die kaum gekannt sind, die im Dunkel wirken, Männer und Frauen: dann, wenn jene wirtschaftlichen Forderungen erreicht sind, kann man die Seelen der Kinder immum machen gegen solchen Schmutz; sie werden dann stark genug sein, solche Ansteckungsstoffe gar nicht aufzunehmen. Langweilig soll ihnen das Laster sein.
Davon wissen die mit dem Polizeiknüppel nichts. Sie verkriechen sich hinter ein lächerlich unwirksames Verbot – und sie sind unehrlich: denn sie wollen das gar nicht treffen, was sie da als Schießscheibe aufstellen. Dahinter steht etwas ganz andres.
Der Schutzverband Deutscher Schriftsteller und die mit ihm arbeitenden Gruppen werden kämpfen müssen. Auf das Parlament ist nicht zu hoffen.
Wer an diesem Gesetz mitarbeitet, wer die vorgespiegelte Absicht ernst nimmt, bereitet das vor, was die Gesetzesmacher gewollt haben: die administrative Zensur und die Unterdrückung der Meinungsfreiheit, soweit sie noch besteht.
Dieses Gesetz gegen Schmutz und Schund fällt unter sich selbst.
Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 21.09.1926, Nr. 38, S. 458.