Hinter der Venus von Milo
Hinter der Venus von Milo, im pariser Louvre, steht ein kleines Bänkchen, auf das habe ich mich neulich gesetzt. Von der Venus sah ich nur den dunkeln, unbeleuchteten Rücken. Die Besucher standen in voller Tageshelle.
Es rückten an die Völker der Erde, in schlenderndem Museumsschritt, schon ein wenig müde vom vielen Spazierengehen, und von weitem sah man die Stumpfheit ihrer Gesichter. Wenn sie sich aber der Venus näherten, dann wechselte der Ausdruck.
Die meisten waren etwas befangen und traten mit einem Gesicht näher, das Männer machen, wenn sie einen Frack anhaben und einen etwas zu hohen Kragen. Sie gaben sich innerlich alle einen Bildungsruck und ›nahmen Haltung an‹. Also das ist sie … Selbst die Frauen machten häufig eine halbe Verbeugung – aber nur, wenn sie allein waren –, manche lächelten wie ertappt. Es gab auch Offensivgeister, die traten rasch und rasch in den kleinen hohen Raum: »Na sahrn Se ma – sind Sie denn nu wirklich so schön, wie es immer heißt? Das wollen wir gleich ma sehn –!«
Sie traten vor und traten zurück, sie suchten einen ›point de vue‹ und hielten die Hand vor Augen, um das ungehörige Licht abzublenden; sie buchstabierten die kleine Drucktafel, auf der drauf stand, dass dies die Venus von Milo sei, ich sah in weitaufgerissene Nasenlöcher und auf funkelnde Brillengläser. Manche kamen schnell angetrabt, mit etwas in den Augen, das sagte: »Na, da bist du ja!« Und: »Du hängst übrigens bei uns in der guten Stube!« Und: »Wirklich sehr schön!« Für viele hätten blaue und rote Gläser da sein sollen, mit denen man sich das Schauspiel hätte bunter gestalten können.
Männer mit schweren Schritten, steifer Haltung und zu kleinen Hüten rückten an, die mußte ich schon mal gesehen haben; französisch waren nur die Wächter, und das Schrecklichste der Schrecken umringte die stille Statue: die reisende Mittelstands-Amerikanerin. Laut, frech, aufdringlich, taktlos, ein unangenehmer Papagei. Ein englisches Mädchenpensionat saß auf den Bänken, wie die Vögel auf der Stange – sie schnatterten ziemlich laut und zeigten sich Bonbons und Ansichtskarten. Ein grausiges Gestell aus Chicago verhandelte mit einem Aufseher, der gutmütig Auskunft gab in einer Haltung, die verriet: »Ich bin schon achtzehn Jahre in dieser Anstalt, ich wundere mich über gar nichts mehr!« – Und ein Liebespaar auf einer Bank in der Ecke blieb eine halbe Stunde – hier und nur hier fühlte es sich ungestört vom pariser Klatsch …
Und es kam die junge Generation, Sportfiguren und glatte Gesichter. Die sahen ganz anders zur Venus auf. »Ewig«, steht in den Kunstbüchern, »ist der Schönheitswert dieses Körpers … « Ewig? Wirklich: ewig –? Diese jungen Leute, denen das Saxophon schon einiges erzählt hatte, dachten darüber vielleicht anders. Viele schnupften kurz auf, sahen hinauf, wieder hinunter, umstanden den Sockel und gingen wieder fort. Ihre Venus sieht vielleicht anders aus.
So saß ich noch lange, lange Zeit. Und muß sagen:
Ich persönlich möchte ja nicht die Venus sein. Hinterließen Augen Flecken: sie müßte aussehen wie eine Pardelhaut. Und wieviel Gleichgültige sehen sie an! Wieviel Konvention ist dabei, Mußbesuch, Pflichtspaziergang im Louvre – (»Und nun noch der Eiffelturm und die Oper – und dann ham was geschafft –!«) Ein Museum ist eine Sache.
Aber vielleicht darf man sich überhaupt nicht hinter die Objekte setzen. Denn was man da so im Laufe der Zeit zu sehen bekommt, läßt einen bald abstumpfen, weil es sich tausendfach wiederholt, weil die Phantasie der Menschen gering ist und ihre Spielarten noch kleiner – und weil Clowns, Richter, Ärzte und manche Damen Bescheid wissen, wie es wiederkommt, alles miteinander.
Peter Panter
Vossische Zeitung, 28.04.1926.