Seelenvermögen
Seelenvermögen nannte man die verschiedenen Kräfte oder Anlagen, welche man der Seele beilegte. Man schloß dabei von der Wirklichkeit mannigfaltiger Phänomene auf die ihnen zugrunde liegenden Kräfte oder Vermögen. Aber der Schluß von den Erscheinungen auf die Kräfte hat immer etwas Unsicheres, und wo zuerst eine Vielheit von Kräften angenommen ist, ist später oft eine Zusammenziehung derselben versucht worden. Die Vermögen sollten ein Mittleres zwischen Wesen und Geschehen sein, nämlich der Grund für die Möglichkeit der Vielheit des Geschehens. Sie sind aber etwas Leeres, durch willkürliche Abstraktion, Trennung und Isolierung Gewonnenes, und weder die Psychologie, noch die Pädagogik, noch die Psychiatrie kann die Theorie des Seelenvermögen recht brauchen; denn eine genauere Betrachtung müßte sie bald ins Unbestimmte vermehren (Empfindung, Gefühl, Erkenntnis, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Einbildungskraft, Verstand, Vernunft, Wille, Begierde usw.), bald wieder auf wenige reduzieren oder in eins zusammenziehen. Sie haben also nur Wert als Bezeichnungen für verschiedene Richtungen, in welchen sich die Seele äußert und dienen der Klassifikation der psychischen Vorgänge. So ist offenbar Denken und Begehren und Fühlen nicht dasselbe, und doch liegen alle drei schon in der Empfindung, im Bewußtseinsakt, vereint, für den Vorstellung (mit Leibniz) zu setzen nicht recht angängig ist. – Schon die Pythagoreer haben Seelenvermögen oder Seelenteile angenommen (nous, epistêmê, doxa, aisthêsis) ebenso Platon (427-347) den vernünftigen Teil (logistikon) den mutigen thymos und den begehrlichen (epithymêtikon); doch erst Aristoteles (384-322) scheidet die vegetative Seele (threptikon) die auch den Pflanzen zukommt, von der empfindenden aisthêtikon begehrenden orektikon und bewegenden kinêtikon kata topon, die außerdem dem Tiere zukommen, und von der denkenden Seele nous, dianoêtikon die allein dem Menschen zukommt. Die Stoiker nahmen drei bis fünfzehn Seelenvermögen an. Nachdem im Mittelalter Aristoteles’ Auffassung geherrscht und dann in der Neuzeit Cartesius (1596 bis 1650) das Denken und Leibniz (1646-1716) die Vorstellung als Grundkraft betrachtet hatte, stellten Wolf (1679 bis 1754) und Kant (1724-1804) wieder Seelenvermögen auf, Wolf das Erkenntnis- und Begehrungsvermögen, Kant das Erkenntnis-, Gefühls- und Begehrungsvermögen. Diese Theorie wurde von Herbart (1776-1841), der auf Leibniz zurückgriff, metaphysisch, von Beneke (1798-1854) psychologisch bekämpft, doch setzt dieser dafür eine große Zahl von „Urvermöge“. Es ist nicht zu leugnen, daß, wenn die Vermögen als selbständig vorgestellt werden, nicht bloß die Einheit der Seele, sondern auch die Möglichkeit des Seelenlebens in Frage gestellt wird. Der Wirklichkeit entspricht allein, daß in jedem Bewußtseinsakte (Empfindung) mit dem Erkenntnisvorgange auch der Gefühlston und die Begehrung, wenn auch in vielfach wechselnder Intensität, verbunden sind. Vgl. Vorländer, Grundlinien einer organ. Wissensch. der menschl. Seele. 1841. G. Siebeck, Geschichte der Psychol. I. 1880 f. Wundt, Grundz. d. phys. Psych. I, S. 13-20.