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Selbstmord

Selbstmord (lat. suicidium, gr. autocheiria) ist die absichtliche Vernichtung des eigenen Lebens. Man unterscheidet groben und feinen Selbstmord; jener besteht in der plötzlichen, dieser in der allmählichen Zerstörung des Lebens (durch Genuß, Gift, Tätigkeit, Hunger). Häufige Ursache des Selbstmordes ist der Wahnsinn, das Delirium oder ein Zustand der Angst, des Schmerzes oder der Verzweiflung, der dem Menschen die Besinnung raubt. In diesen Fällen kann man die Tat dem Urheber nicht unmittelbar zurechnen. Aber daß jemand überhaupt in solchen Zustand sinnraubender Angst und Verzweiflung geraten ist, in dem er sich selbst das Leben nehmen kann, kann ihm oft zum sittlichen Vorwurf gemacht werden. Jede Tat ist das Kind früherer Taten, und die menschliche Verantwortung hört nicht auf, trotzdem jede Tat notwendig aus früheren folgt. Abgesehen aber von den genannten Ursachen des Selbstmordes und ähnlichen ist dieser ein psychologisches Problem: Wie kommt der Mensch dazu, gegen den Grundtrieb der Selbsterhaltung zu handeln? In der Tat sind die Gründe, die ihn dazu treiben, meist die schwersten Leiden. Der Mensch mordet sich nur dann, wenn ihm das Leben so verhaßt geworden ist, daß die Furcht vor dem Tode durch die Abneigung gegen die Fortexistenz besiegt wird. Tiere können sich dagegen nicht umbringen, weil es ihnen dazu an Übersicht und Charakter fehlt; auch haben sie nie so starke geistige Leiden wie Menschen.

Weil allen Wesen die Furcht vor dem Tode (horror mortis) von Natur innewohnt, findet der Selbstmörder auch Bewunderer. Und doch ist der Selbstmord unnatürlich. Der Mensch hat sich nicht selbst ins Dasein gerufen, erhält sich nicht selbst, ihn binden in jeder Lage Pflichten und Verhältnisse. Andere haben auf unseren Dank und unsere Tätigkeit Anspruch. Durch Selbstmord entziehen wir uns diesen Pflichten; und selten ist andrerseits ein Mensch so verachtet und verlassen, daß ihm nicht noch das Mitgefühl und die Hilfe anderer zufällt. Wir sind zwar über die Zeit hinaus, wo man den Stein auf einen unglücklichen Selbstmörder wirft, oder ihm ins Gesicht speit, aber die Versuche, den Selbstmord zu verteidigen, sind doch mißlungen.

Die Kyniker und Stoiker lehrten zwar, der Weise sei auch Herr über sein Leben; er könne es daher verlassen, wenn es ihm nicht mehr zusage. Sobald uns die Gottheit einen Wink gebe, daß man gehen solle, sei es unwürdige Feigheit, aus tierischer Anhänglichkeit an die Erde, jenem Rufe nicht zu folgen. – Doch ist der Leib keineswegs ein Kleid, das man nach Belieben wechselt, sondern gehört unlösbar zu unserem Ich. Und es ist sicher mutiger, ein Leben voller Schwierigkeiten zu ertragen, als es schnell fortzuwerfen. Dies erkennt man bei allen Selbstmördern, von denen uns die Geschichte oder die Dichtung erzählt. (Vgl. z.B. Saul, Ahitophel, Aias, Cato, Seneca, Werther, Don Cesar.) Schopenhauer (1788-1860) rühmt es als ein Vorrecht des Menschen, zu leben, solange er will. Wenn die Schrecknisse des Lebens größer sind als die des Todes, greife er zum Selbstmorde: doch sei die Veranlassung oft überaus gering. Auf nichts habe der Mensch aber ein so unzweifelhaftes Recht, wie auf sein Leben. Doch sei es ganz vergeblich, durch Selbstmord dem Leben entrinnen zu wollen; „was jeder im Innersten will, das muß er sein, und was jeder ist, das will er eben“… Weil dem Willen zum Leben das Leben immer gewiß und diesem das Leiden wesentlich ist, so ist „der Selbstmord, die willkürliche Zerstörung einer einzelnen Erscheinung, bei der das Ding an sich ungestört stehen bleibt,… eine ganz vergebliche und törichte Handlung. Aber sie ist auch überdies das Meisterstück der Maja, als der schreiendste Ausdruck des Widerspruchs des Willens zum Leben mit sich selbst“ (W. a. W. u. V. I, § 69). Auch in diesen Gedanken verleugnet Schopenhauer, wie stets, nicht die Eigenartigkeit seiner Gedankenwelt, die alles auf das eine Prinzip des Willens zurückführt.

In neuerer Zeit hat sich eine stärkere Selbstmordneigung als früher geltend gemacht. Während wir bei den Naturvölkern überhaupt keinen Selbstmord, bei den alten Griechen ihn selten finden, zeigt die Welt im 1. und 2. Jahrhundert n. Chr. allgemein Lebensüberdruß und Neigung zum Selbstmorde. Mit der Ausbreitung des Christentums schwindet diese wieder, und Selbstmorde treten daher im Mittelalter mehr vereinzelt auf. In dem Zeitalter der Renaissance und Reformation tritt wieder eine gewisse Sucht zum Selbstmord hervor; sie steigert sich fortwährend und hat im 19. Jahrhundert stellenweise eine große Höhe erlangt. So hat sich die Zahl der Selbstmorde in den meisten zivilisierten Staaten in 50 Jahren fast verdreifacht, man zählte z.B. in Preußen 1836: 1436 Fälle, 1887 dagegen 5898 Fälle. Dazu kommen noch mindestens 1/3 soviel Selbstmordversuche. Als Ursache dieser traurigen Erscheinung lassen sich vor allen bestimmte Wirkungen der physischen und geistigen Organisation des Menschen angeben, wie schlechter Gesundheitszustand, Morbilität und Mortalität, Geschlecht, Alter, ferner sozialpolitische Verhältnisse: Volkszahl und Dichtigkeit, Ehe- und Familienleben, Wirkung der Freiheitsstrafe, Beruf, Rasse, Nationalität, politische Krisen. Sodann sind auf die Steigerung der Zahlen von Einfluß wirtschaftliche Zustände: Zerrüttung des Vermögens, Armut, Elend. Endlich kommen in Betracht die intellektuellen, moralischen und religiösen Einflüsse; die moderne Überanstrengung des Geistes und die mangelnde Durchbildung des Charakters, sowie die Immoralität gehören vor allem hierher. Dies zeigt z.B. folgende statistische Tabelle der Selbstmorde in Frankreich 1856-61: Ursache unbekannt: 2139; Lebensüberdruß: 951; Geisteskrankheit: 7421; mit Geistesstörung verbundene Leidenschaften: 24; körperliche Leiden: 2651; Leidenschaften: 745; Laster: 2732; Kummer über andere: 331; Zwist in der Familie: 2600; Kummer über Vermögensverhältnisse: 2764; Unzufriedenheit mit der Lage: 253; Reue und Scham: 158; Furcht vor Strafe: 1528; Selbstmord nach Mord: 165. In Berlin stellte sich bei einer Bevölkerungsziffer von 1988742 im Jahre 1904 das Bild so: Beweggründe unbekannt: 190; Lebensüberdruß: 14; Geisteskrankheit: 75; Leidenschaften: 26; körperliche Leiden: 78; Laster: 1; Trauer, Kummer: 125; Reue, Scham: 18; Arger, Streit: 13; Nerven: 43; Geistesschwäche: 1; Alkoholismus: 40; andere Beweggründe: 6. – Als Therapie dieser Zustände empfiehlt sich: 1. Besserung der sozialen und hygienischen Zustände; 2. vernünftige Erziehung und 3. Verbreitung einer moralischen Weltanschauung. – Vgl. Th. G. Masaryk, Der Selbstmord als soziale Massenerscheinung. 1881. v. Öttingen, Akuter und chronischer Selbstmord. Leipzig 1882. Tschirner, Leben und Ende merkwürdiger Selbstmörder. 1805. Stäudlin, Gesch. der Vorstellungen und Lehren vom Selbstmorde. 1824. Hume, On suicide and immortality of souls. 1783.