Selbsterkenntnis
Selbsterkenntnis kann nach der bekannten Inschrift des Apollotempels zu Delphi: Erkenne dich selbst! gnôthi sauton als der Anfang der Weisheit und als die höchste Offenbarung gelten, die dem Menschen zuteil werden kann. Die Selbsterkenntnis besteht nicht in der theoretischen Erkenntnis des menschlichen Wesens überhaupt, sondern in der ethischen Einsicht in das eigene Wesen, die der einzelne Mensch besitzt, in der Kenntnis, die jeder Mensch von seinen eigenen Mängeln und Schwächen, Anlagen und Fähigkeiten, Kräften und Kraftgrenzen erwirbt, im richtigen Urteil über sich selbst. Das Haupthindernis der Selbsterkenntnis ist die Eitelkeit, welche uns schmeichelt und alles im günstigsten Lichte erscheinen läßt. Aber selbst wenn wir gegen sie ankämpfen, so erhebt sich die andere Schwierigkeit, daß wir uns selbst, ebenso wie andere, nur immer im Einzelfalle durch Erfahrung kennen lernen. Jeder erkennt sich zu bestimmter Zeit immer nur stückweise und wird an sich selbst nacheinander Seiten des Charakters erkennen, die er in sich nicht vermutet hätte. Von der Selbsterkenntnis gilt also der Satz: „Wirke, nur in seinen Werken kann der Mensch sich selbst bemerken.“ Die Selbsterkenntnis setzt aber auch die Kenntnis der anderen Menschen und der Welt voraus, weil wir nur im Vergleich mit anderen über uns selber gerecht zu urteilen vermögen. Da alle Menschen Individuen derselben Gattung sind, ist die Beobachtung anderer unentbehrlich, wie Schiller sie in dem Worte fordert: „Willst du dich selber erkennen, so sieh’, wie die andern es treiben!“ Es gibt übrigens einige gute Kriterien, an denen man sich selbst beurteilen lernt: Mit wem man umgeht, was man lächerlich findet, worein man das höchste Glück setzt, wie man sich benimmt, wenn man allein ist, u. dgl. m. Vgl. Augustinus, Confessiones, dtsch. v. Rapp. 7. Aufl. 1878. Rousseau, Confessions. 1764. Schleiermacher, Monologe. 1800. Vgl. Selbstbeobachtung.