§ 18. Umriß einer transzendentalen Analysis der empirischen Realität.
Die Formen dieser Vorstellungen sind die des innern und äußern Sinnes, Zeit und Raum. Aber nur als erfüllt sind diese wahrnehmbar. Ihre Wahrnehmbarkeit ist die Materie, auf welche ich weiterhin, wie auch § 21, zurückkommen werde.
Wäre die Zeit die alleinige Form dieser Vorstellungen; so gäbe es kein Zugleichsein und deshalb nichts Beharrliches und keine Dauer. Denn die Zeit wird nur wahrgenommen, sofern sie erfüllt ist, und ihr Fortgang nur durch den Wechsel des sie Erfüllenden. Das Beharren eines Objekts wird daher nur erkannt durch den Gegensatz des Wechsels anderer, die mit ihm zugleich sind. Die Vorstellung des Zugleichseins aber ist in der bloßen Zeit nicht möglich; sondern, zur andern Hälfte, bedingt durch die Vorstellung vom Raum; weil in der bloßen Zeit alles nach einander, im Raum aber neben einander ist: dieselbe entsteht also erst durch den Verein von Zeit und Raum.
Wäre andererseits der Raum die alleinige Form der Vorstellungen dieser Klasse; so gäbe es keinen Wechsel: denn Wechsel, oder Veränderung, ist Sukzession der Zustände, und Sukzession ist nur in der Zeit möglich. Daher kann man die Zeit auch definiren als die Möglichkeit entgegengesetzter Bestimmungen am selben Dinge.
Wir sehn also, dass die beiden Formen der empirischen Vorstellungen, obwohl sie bekanntlich unendliche Teilbarkeit und unendliche Ausdehnung gemein haben, doch grundverschieden sind, darin, dass was der einen wesentlich ist, in der anderen gar keine Bedeutung hat: das Nebeneinander keine in der Zeit, das Nacheinander keine im Raum. Die empirischen, zum gesetzmäßigen Komplex der Realität gehörigen Vorstellungen erscheinen dennoch in beiden Formen zugleich, und sogar ist eine innige Vereinigung beider die Bedingung der Realität, welche aus ihnen gewissermaßen wie ein Produkt aus seinen Faktoren erwächst. Was diese Vereinigung schafft ist der Verstand, der, mittelst seiner, ihm eigentümlichen Funktion, jene heterogenen Formen der Sinnlichkeit verbindet, so dass aus ihrer wechselseitigen Durchdringung, wiewohl eben auch nur für ihn selbst, die empirische Realität hervorgeht, als eine Gesammtvorstellung, welche einen, durch die Formen des Satzes vom Grunde zusammengehaltenen Komplex, jedoch mit problematischen Gränzen, bildet, von dem alle einzelnen, dieser Klasse angehörigen Vorstellungen Teile sind und in ihm, bestimmten, uns a priori bewußten Gesetzen gemäß, ihre Stellen einnehmen, in welchem daher unzählige Objekte zugleich existieren, weil in ihm, ungeachtet der Unaufhaltsamkeit der Zeit, die Substanz, d.i. die Materie, beharrt, und ungeachtet der starren Unbeweglichkeit des Raums ihre Zustände wechseln, in welchem also, mit Einem Wort, diese ganze objektive reale Welt für uns daist. Die Ausführung der hier nur im Umriß gegebenen Analysis der empirischen Realität, durch eine nähere Auseinandersetzung der Art und Weise, wie durch die Funktion des Verstandes jene Vereinigung und mit ihr die Erfahrungswelt für ihn zu Stande kommt, findet der teilnehmende Leser in der »Welt als Wille und Vorstellung,« Bd. I § 4 (oder erste Aufl. S. 12 fg.), wozu ihm die dem 4. Kapitel des 2. Bandes beigegebene und seiner aufmerksamen Beachtung empfohlene Tafel der »Prädikabilia a priori der Zeit, des Raumes und der Materie« eine wesentliche Beihilfe sein wird; da aus ihr besonders erhellt, wie die Gegensätze des Raumes und der Zeit sich in der Materie, als ihrem in der Form der Kausalität sich darstellenden Produkt, ausgleichen.
Die Funktion des Verstandes, welche die Basis der empirischen Realität ausmacht, soll sogleich ihre ausführliche Darstellung erhalten: nur müssen zuvor, durch ein Paar beiläufige Erörterungen, die nächsten Anstöße, welche die hier befolgte idealistische GrundAuffassung finden könnte, beseitigt werden.