§ 52. Zwei Hauptresultate
Ich habe mich bestrebt, in dieser Abhandlung zu zeigen, dass der Satz vom zureichenden Grund ein gemeinschaftlicher Ausdruck sei für vier ganz verschiedene Verhältnisse, deren jedes auf einem besonderen und (da der Satz vom zureichenden Grund ein synthetischer a priori ist) a priori gegebenen Gesetze beruht, von welchen vier, nach dem Grundsatz der Spezifikation gefunden, Gesetzen nach dem Grundsatz der Homogeneität angenommen werden muß, dass, so wie sie in einem gemeinschaftlichen Ausdruck zusammentreffen, sie auch aus einer und der selben Urbeschaffenheit unsers ganzen Erkenntnisvermögens, als ihrer gemeinschaftlichen Wurzel, entspringen, welche demnach anzusehn wäre als der innerste Keim aller Dependenz, Relativität, Instabilität und Endlichkeit der Objekte unsers in Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft, Subjekt und Objekt befangenen Bewußtseins, oder derjenigen Welt, welche der hohe Plato wiederholentlich als das aei gignomenon men kai apollymenon, ontôs de oudepote on, deren Erkenntnis nur eine doxa metaisthêseôs alogou wäre, herabsetzt, und welche das Christentum, mit richtigem Sinn, nach derjenigen Gestaltung unsers Satzes, welche ich § 46 als sein einfachstes Schema und den Urtypus aller Endlichkeit bezeichnet habe, die Zeitlichkeit nennt. Der allgemeine Sinn des Satzes vom Grunde überhaupt läuft darauf zurück, dass immer und überall Jegliches nur vermöge eines Anderen ist. Nun ist aber der Satz vom Grunde in allen seinen Gestalten a priori, wurzelt also in unserm Intellekt: daher darf er nicht auf das Ganze aller daseienden Dinge, die Welt, mit Einschluß dieses Intellekts, in welchem sie dasteht, angewandt werden. Denn eine solche, vermöge apriorischer Formen sich darstellende Welt ist eben deshalb bloße Erscheinung: was daher nur in Folge eben dieser Formen von ihr gilt, findet keine Anwendung auf sie selbst, d.h. auf das in ihr sich darstellende Ding an sich. Daher kann man nicht sagen: »Die Welt und alle Dinge in ihr existieren vermöge eines Anderen«; — welcher Satz eben der kosmologische Beweis ist.
Ist mir die Ableitung des so eben ausgesprochenen Resultats durch gegenwärtige Abhandlung gelungen; so wäre, dächte ich, an jeden Philosophen, der, bei seinen Spekulationen, auf den Satz vom zureichenden Grunde einen Schluß baut, oder überhaupt nur von einem Grunde spricht, die Forderung zu machen, dass er bestimme, welche Art von Grund er meine. Man könnte glauben, dass, so oft von einem Grunde die Rede ist, Jenes sich von selbst ergebe und keine Verwechselung möglich sei. Allein es finden sich nur gar zu viele Beispiele, teils dass die Ausdrücke Grund und Ursache verwechselt und ohne Unterscheidung gebraucht werden, teils dass im Allgemeinen von einem Grund und Begründeten, Prinzip und Prinzipiat, Bedingung und Bedingten geredet wird, ohne nähere Bestimmung; vielleicht eben weil man sich im Stillen eines unberechtigten Gebrauchs dieser Begriffe bewußt ist. So spricht selbst Kant von dem Ding an sich als dem Grunde der Erscheinung. So spricht er (Krit. d. r. V., 5. Aufl., S. 590) von einem Grunde der Möglichkeit aller Erscheinung; von einem intelligiblen Grund der Erscheinungen; von einer intelligiblen Ursache, einem unbekannten Grund der Möglichkeit der sinnlichen Reihe überhaupt (S. 592); von einem den Erscheinungen zum Grunde liegenden transzendentalen Objekt und dem Grunde warum unsere Sinnlichkeit diese viel mehr als alle andern obersten Bedingungen habe (S. 641); und so an mehreren Stellen. Welches alles mir schlecht zu passen scheint zu jenen gewichtigen, tiefsinnigen, ja unsterblichen Worten (S. 591): »dass die Zufälligkeit*) der Dinge selbst nur Phänomen sei und auf keinen andern Regressus führen könne, als den empirischen, der die Phänomene bestimmt.« Daß, seit Kant, die Begriffe Grund und Folge, Prinzip und Prinzipiat u.s.w. noch viel unbestimmter und ganz und gar transscendent gebraucht sind, weiß Jeder dem die neueren philosophischen Schriften bekannt sind.
Gegen diesen unbestimmten Gebrauch des Wortes Grund und mit ihm des Satzes vom zureichenden Grunde überhaupt ist Folgendes meine Einwendung und zugleich das zweite, mit dem ersten genau verbundene Resultat, welches diese Abhandlung über ihren eigentlichen Gegenstand gibt. Obgleich die vier Gesetze unsers Erkenntnisvermögens, deren gemeinschaftlicher Ausdruck der Satz vom zureichenden Grunde ist, durch ihren gemeinsamen Charakter, und dadurch, dass alle Objekte des Subjekts unter sie verteilt sind, sich ankündigen als durch Eine und die selbe Urbeschaffenheit und innere Eigentümlichkeit des als Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft erscheinenden Erkenntnisvermögens gesetzt, so dass sogar, wenn man sich einbildete, es könnte eine neue, fünfte Klasse von Objekten entstehen, dann ebenfalls vorauszusetzen wäre, dass in ihr auch der Satz vom zureichenden Grund in einer neuen Gestalt auftreten würde; so dürfen wir dennoch nicht von einem Grunde schlechthin sprechen, und es gibt so wenig einen Grund überhaupt, wie einen Triangel überhaupt, anders, als in einem abstrakten, durch diskursives Denken gewonnenen Begriff, der als Vorstellung aus Vorstellungen, nichts weiter ist, als ein Mittel Vieles durch Eines zu denken. Wie jeder Triangel spitz, recht- oder stumpfwinklig, gleichseitig, gleichschenklig oder ungleichseitig sein muß; so muß auch (da wir nur vier und zwar bestimmt gesonderte Klassen von Objekten haben) jeder Grund zu einer der angegebenen vier möglichen Arten der Gründe gehören und demnach innerhalb einer der vier angegebenen möglichen Klassen von Objekten unsers Vorstellungsvermögens, — die folglich, mit sammt diesem Vermögen, d.h. der ganzen Welt, sein Gebrauch schon als gegeben voraussetzt und sich diesseit hält, — gelten, nicht aber außerhalb derselben, oder gar außerhalb aller Objekte. Sollte dennoch Jemand hier über anders denken, und meinen, Grund überhaupt sei etwas Anderes, als der aus den vier Arten der Gründe abgezogene, ihr Gemeinschaftliches ausdrückende Begriff; so könnten wir den Streit der Realisten und Nominalisten erneuen, wobei ich in gegenwärtigem Fall auf der Seite der letztern stehen müßte.
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*) Die empirische Zufälligkeit ist gemeint, welche bei Kant so viel bedeutet, wie Abhängigkeit von andern Dingen; worüber ich auf meine Rüge, S. 524 meiner »Kritik an der Kantischen Philosophie« verweise.