Der kategorische Imperativ Kants und »das Sittengesetz«


Aber wo ist denn die Lüge ausgeheckt, und wie ist das Märchen in die Welt gekommen? — Ich muß es gestehen: den nächsten Anlaß hat leider Kants praktische Vernunft gegeben, mit ihrem kategorischen Imperativ. Diese nämlich ein Mal angenommen, hatte man weiter nichts nötig, als derselben eine eben so reichsunmittelbare, folglich ex tripode die metaphysischen Wahrheiten verkündende theoretische Vernunft, als ihren Pendant, oder ihre Zwillingsschwester, beizugeben. Den glänzenden Erfolg der Sache habe ich geschildert in den Grundproblemen der Ethik S. 148 fg., wohin ich verweise. Indem ich also einräume, dass Kant zu dieser erlogenen Annahme den Anlaß gegeben, muß ich jedoch hinzufügen: wer gerne tanzt, dem ist leicht gepfiffen. Ist es doch wie ein Fluch, der auf dem bipedischen Geschlechte lastet, dass, vermöge seiner Wahlverwandtschaft zum Verkehrten und Schlechten, ihm sogar an den Werken großer Geister gerade das Schlechteste, ja geradezu die Fehler, am besten gefallen; so dass es diese lobt und bewundert, hingegen das wirklich Bewunderungswürdige ihnen nur so mit hingehn läßt. Das wahrhaft Große, das eigentlich Tiefe in Kants Philosophie ist jetzt äußerst Wenigen bekannt: denn mit dem ernstlichen Studio seiner Werke mußte auch das Verständnis derselben aufhören. Sie werden nur noch kursorisch, zum Behuf historischer Kenntnißnahme, gelesen von Jenen, welche wähnen, nach ihm sei auch etwas gekommen, ja, erst das Rechte: daher man allem Gerede Dieser von Kantischer Philosophie anmerkt, dass sie nur die Schaale, die Außenseite derselben kennen, einen rohen Umriß davon nach Hause getragen, hie und da ein Wort aufgeschnappt haben, aber nie in den tiefen Sinn und Geist derselben eingedrungen sind. Was nun allen Solchen von jeher am besten im Kant gefallen hat, sind zuvörderst die Antinomien, als ein gar vertracktes Ding, noch mehr aber die praktische Vernunft, mit ihrem kategorischen Imperativ, und wohl gar noch die darauf gesetzte Moraltheologie, mit der es jedoch Kanten nie Ernst gewesen ist; da ein theoretisches Dogma von ausschließlich praktischer Geltung der hölzernen Flinte gleicht, die man ohne Gefahr den Kindern geben kann, auch ganz eigentlich zum »Wasch' mir den Pelz, aber mach' ihn mir nicht naß« gehört. Was nun aber den kategorischen Imperativ selbst betrifft, so hat Kant ihn nie als Tatsache behauptet, hiegegen vielmehr wiederholentlich protestiert und denselben bloß als das Resultat einer höchst wunderlichen Begriffskombination aufgetischt; weil er eben einen Notanker für die Moral brauchte. Die Philosophieprofessoren aber haben niemals das Fundament der Sache untersucht, so dass, wie es scheint, vor mir dasselbe nicht ein Mal erkannt worden ist: statt Dessen haben sie sich beeilt, unter dem puristischen Namen »das Sittengesetz«, der mich jedesmal an Bürger's Mamsell Laregle erinnert, den kategorischen Imperativ als felsenfest begründete Tatsache in Kredit zu bringen, ja, haben etwas so Massives daraus gemacht, wie die steinernen Gesetztafeln des Moses, welche er ganz und gar bei ihnen vertreten muß. Nun habe ich zwar, in meiner Abhandlung über das Fundament der Moral, die praktische Vernunft, mit ihrem Imperativ, unter das anatomische Messer genommen[,] und dass nie Leben und Wahrheit in ihnen gewesen ist so deutlich und sicher nachgewiesen, dass ich Den sehn will, der mich mit Gründen widerlegen und ehrlicher Weise dem kategorischen Imperativ wieder auf die Beine helfen kann. Das macht jedoch die Philosophieprofessoren nicht irre. Sie können ihr »Sittengesetz der praktischen Vernunft« als einen bequemen Deus ex machina zur Begründung ihrer Moral, so wenig wie die Freiheit des Willens, entbehren: denn dies sind zwei höchst wesentliche Stücke ihrer Alteweiber- und Rocken-Philosophie. Daß ich nun beide todtgeschlagen habe tut nichts: bei ihnen leben sie noch immer, — wie man bisweilen einen bereits gestorbenen Monarchen, aus politischen Gründen, noch einige Tage fortregieren läßt. Gegen meine unerbittliche Demolition jener beiden alten Fabeln gebrauchen die Tapfern eben nur ihre alte Taktik: schweigen, schweigen, fein leise vorüber schleichen, tun als ob nichts geschehn wäre, damit das Publikum glaube, dass was so Einer wie ich sagt nicht wert sei, dass man auch nur hinhöre: nun freilich; sind sie doch vom Ministerio zur Philosophie berufen, und ich bloß von der Natur. Zwar wird sich wohl am Ende ergeben, dass diese Helden es machen, wie der idealistisch gesinnte Vogel Strauß, welcher meint, dass wenn nur er die Augen verhüllt, der Jäger nicht mehr dasei. Je nun, kommt Zeit, kommt Rath: wenn nur noch einstweilen, etwan bis ich todt bin und man sich meine Sachen nach eigenem Gusto appretieren kann, das Publikum sich an dem unfruchtbaren Gesaalbader, dem unerträglich langweiligen Gekaue, den arbiträren Konstruktionen des Absolutums und der Kinderschulenmoral der Herren genügen lassen will, da wird man später weiter sehn.

 

Morgen habe denn das Rechte

Seine Freunde wohlgesinnet,

Wenn nur heute noch das Schlechte

Vollen Platz und Gunst gewinnet.

W. O. Divan p. 97.

 

Aber wissen die Herren auch, was es an der Zelt ist? — Eine längst prophezeite Epoche ist eingetreten: die Kirche wankt, wankt so stark, dass es sich frägt, ob sie den Schwerpunkt wiederfinden werde: denn der Glaube ist abhanden gekommen. Ist es doch mit dem Licht der Offenbarung wie mit andern Lichtern: einige Dunkelheit ist die Bedingung. Die Zahl Derer, welche ein gewisser Grad und Umfang von Kenntnissen zum Glauben unfähig macht, ist bedenklich groß geworden. Dies bezeugt die allgemeine Verbreitung des platten Rationalismus, der sein Bulldogsgesicht immer breiter auslegt. Die tiefen Mysterien des Christentums, über welche die Jahrhunderte gebrütet und gestritten haben, schickt er sich ganz gelassen an, mit seiner Schneiderelle auszumessen und dünkt sich wunderklug dabei. Vor Allem ist das Christliche Kerndogma, die Lehre von der Erbsünde, bei den rationalistischen Plattköpfen zum Kinderspott geworden; weil eben ihnen nichts klarer und gewisser dünkt, als dass das Dasein eines Jeden mit seiner Geburt angefangen habe, daher er unmöglich verschuldet auf die Welt gekommen sein könne. Wie scharfsinnig! — Und wie, wenn Verarmung und Vernachlässigung überhand nehmen, dann die Wölfe anfangen sich im Dorfe zu zeigen; so erhebt, unter diesen Umständen, der stets bereit liegende Materialismus das Haupt und kommt, mit seinem Begleiter, dem Bestialismus (von gewissen Leuten Humanismus genannt), an der Hand, heran. — Mit der Unfähigkeit zum Glauben wächst das Bedürfnis der Erkenntnis. Es gibt einen Siedepunkt auf der Skala der Kultur, wo aller Glaube, alle Offenbarung, alle Autoritäten sich verflüchtigen, der Mensch nach eigener Einsicht verlangt, belehrt, aber auch überzeugt sein will. Das Gängelband der Kindheit ist von ihm gefallen: er will auf eigenen Beinen stehen. Dabei aber ist sein metaphysisches Bedürfnis (Welt als Wille und Vorstellung, B. 2, Kap. 17) so unvertilgbar, wie irgend ein physisches. Dann wird es Ernst mit dem Verlangen nach Philosophie, und die bedürftige Menschheit ruft alle denkenden Geister, die sie jemals aus ihrem Schooß erzeugt hat, an. Mit hohlem Wortkram und impotenten Bemühungen geistiger Kastraten ist da nicht mehr auszureichen; sondern es bedarf dann einer ernstlich gemeinten, d.h. einer auf Wahrheit, nicht auf Gehalte und Honorare gerichteten Philosophie, die daher nicht frägt, ob sie Ministern oder Räten gefalle, oder dieser oder jener Kirchenpartei der Zeit in ihren Kram passe; sondern an den Tag legt, dass der Beruf der Philosophie ein ganz anderer sei, als eine Erwerbsquelle für die Armen am Geiste abzugeben.

Doch ich kehre zu meinem Thema zurück. Dem praktischen Orakel, welches Kant der Vernunft fälschlich zugeschrieben hatte, wurde, mittelst einer, bloß einiger Kühnheit bedürfenden Amplifikation, ein theoretisches Orakel zugesellt. Die Ehre der Erfindung wird wohl auf F. H. Jacobi zurückzuführen sein, von welchem teueren Manne die Philosophieprofessoren das wertvolle Geschenk freudig und dankbar entgegennahmen. Denn dadurch war ihnen geholfen aus der Not, in die Kant sie versetzt hatte. Die kalte, nüchterne, überlegende Vernunft, welche Kant so grausam kritisiert hatte, wurde zum Verstande degradiert und mußte fortan diesen Namen führen: der Name der Vernunft aber wurde einem gänzlich imaginären, zu Deutsch, erlogenen Vermögen beigelegt, an dem man gleichsam ein in die supralunarische, ja übernatürliche Welt sich öffnendes Fensterlein hatte, durch welches man daher alle die Wahrheiten ganz fertig und zugerichtet in Empfang nehmen konnte, um welche die bisherige, altmodische, ehrliche, reflektierende und besonnene Vernunft sich Jahrhunderte lang vergeblich abgemüht und gestritten hatte. Und auf einem solchen, völlig aus der Luft gegriffenen, völlig erlogenen Vermögen basiert sich seit fünfzig Jahren die Deutsche sogenannte Philosophie, erst als freie Konstruktion und Projektion des absoluten Ich und seiner Emanationen zum Nicht-Ich, dann als intellektuale Anschauung der absoluten Identität, oder Indifferenz, und ihrer Evolutionen zur Natur, oder auch des Entstehens Gottes aus seinem finstern Grunde, oder Ungrunde, à la Jakob Böhme, endlich als reines Sichselbstdenken der absoluten Idee und Schauplatz des Ballets der Selbstbewegung der Begriffe, daneben aber stets noch als unmittelbares Vernehmen des Göttlichen, des Übersinnlichen, der Gottheit, der Schönheit, Wahrheit, Gutheit, und was sonst noch für Heiten gefällig sein mögen, oder auch als bloßes Ahnen (ohne d) aller dieser Herrlichkeiten. — Das also wäre Vernunft? o nein, das sind Possen, welche den durch die ernsthaften Kantischen Kritiken in Verlegenheit gesetzten Philosophieprofessoren zum Notbehelfe dienen sollen, um irgend wie, per fas aut nefas, die Gegenstände der Landesreligion für Ergebnisse der Philosophie auszugeben.


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