Eine Ebner-Eschenbach-Natur


Den Gipfel dessen, was in diesen Tagen der Anbetung des goldenen Kalbes und der Jeritza möglich ist, dürfte wohl der Artikel des Herrn Richard Kola unter dem Titel »Die Duse und ich« bezeichnen, ein Titel, der selbst dann eine den sonstigen Mitteln des Autors angemessene Vordringlichlichkeit bewiese, wenn danach irgendwelche persönliche Beziehung zur Duse dargestellt würde. Die Beziehung besteht aber ausschließlich darin, dass Herr Kola dem ersten Wiener Auftreten der Duse beigewohnt hat und zwar vor dreißig Jahren oder einprägsamer gesagt: zu jener Zeit, wo Herr Kola noch fünfzig Gulden Monatsgehalt hatte. Über die Verwendung dieses Betrages erzählt Herr Kola Leuten, die für den Werdegang bedeutender Finanzmänner Interesse haben, das Folgende:

Der Betrag mußte für Nahrung, Wohnung und Kleidung hinreichen, und er mußte mit viel Scharfsinn eingeteilt werden, um die notwendigsten Luxusbedürfnisse an Lektüre, Theater und Weiblichkeit zu decken. Für den ersten und dritten Bedarfsartikel war je ein Gulden monatlich bestimmt; für das Theater waren zwei Gulden ausgeworfen, wodurch es mir ermöglicht war, ungefähr fünf- bis sechsmal monatlich ins Theater zu gehen.

Wie oft der Herr Kola um die Hälfte des Betrages die beiden andern Bedürfnisse befriedigen konnte, verrät er nicht. Offenbar ist es der keusche Zug seines Wesens, das der Herr Bahr auf Grund der Kola'schen Memoiren »eine Ebner-Eschenbach-Natur« genannt hat. Nun erzählt Herr Kola, wie begeistert das Publikum, wie begeistert er selbst und sein Bureaukollege Rosenberg von der Duse waren.

... Alle möglichen Rufe — natürlich italienisch — schallten ihr entgegen.

Kollege Rosenberg und ich waren beschämt. Mit unseren armseligen Hoch- und Bravorufen konnten wir uns kein Gehör verschaffen. Alles rief italienisch, schrie, gestikulierte. Da wurden wir beide mitgerissen.

Die wenigen italienischen Brocken, die wir kannten, waren uns teils aus Schlagworten, teils von der Buchhaltung her geläufig. Und so kam es, dass wir nun vor Begeisterung von der Galerie aus herunterriefen: Salda conti! Eviva! Prima vista! Salvo errore et omissione! Corpo di bacco! Maroni arostidi! »Se non è vero!« schrie ich; »è ben trovato!« rief Rosenberg.

Die Leute rund um uns tobten in einer Weise, dass sie den Wortlaut unserer Zurufe gar nicht beachteten. — — — Und wir riefen immer aufs neue: Salda conti! Maledetto di Dio!

Dreißig Jahre, schließt Herr Kola, sind seit jenem denkwürdigen Theaterabend vergangen, in dieser Zeit hat sich die Ebner-Eschenbachgestalt abgerundet

und wir sind beide um dreißig Jahre älter geworden — die Duse und ich.

Als Symptome dieses Älterwerdens und dessen merkwürdiger Gleichzeitigkeit führt Herr Kola an, dass die Duse »nicht mehr die Kameliendame, sondern die Frau vom Meere spielt« (das ältere Fach), dass sie »nicht mehr die unbekannte Schauspielerin, sondern die weltberühmte Tragödin« ist und, was das Interessanteste ist: dass Herr Kola nicht mehr auf der vierten Galerie, sondern »in der Mittelloge« sitzt, »noch dazu unter erschwerenden Umständen«:

Das Haus, in dem sie auftritt, gehört mir ...

Und dennoch: Hand aufs Herz, Frau Eleonora: Vor dreißig Jahren war's doch schöner, — nicht wahr?

Wem sagen Sie das, erwiderte die Duse, der es natürlich auch viel sympathischer wäre, wenn der Herr Kola wieder mit einem Galerieplatz vorlieb nehmen und was er jetzt monatlich über fünfzig Gulden verdient, unter die Armen verteilen möchte. Wenn diese sich heute einen Besuch des Duse-Gastspiels leisten könnten, so wären sie gewiß so begeistert wie einst der junge Kola und würden, da die Duse nun das Altenteil der Frau vom Meere gewählt hat, gleichfalls die paar italienischen Brocken, die ihnen geläufig sind, zusammennehmen und immer aufs neue rufen: Pesce cane! Alpine! Cosi fan tutti!

 

 

Oktober 1923.


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