Die Thespis


(Der 16jährige Theaterdirektor.) Bevor er wegen Betruges in den Kerker flog, hat der junge Johann Stöger einen Rekord aufgestellt: der eine ist der erfolgreichste Schieber, der andere der gerissenste, aber der Angeklagte von gestern war das Wunderkind dieser prächtigen Gilde. — — Dass dieser Stöger schon mit 15 Jahren ein anerkannt guter Viehhändler war, ist noch nicht seine Meisterleistung, wenn man auch darüber staunen muß, dass ein so grüner Knabe Geschäftsfreunde fand. Dass er aber als Sechzehnjähriger das Stadttheater in Baden pachten und betreiben konnte, ist ein Stück, das zwischen tiefer Tragik und lustiger Operette schwankt. Ein bartloser Junge konnte Verträge abschließen, konnte Existenzen aufbauen oder vernichten, konnte mit den Gemeindevertretungen mehrerer Orte Verhandlungen führen. — —

Soweit so gut, und man muß nur staunen, dass der Bühnenverein es unterlassen hat, Herrn Stöger die moralische Zuverlässigkeit zu bestätigen. Das Neue Wiener Tagblatt aber weiß fortzusetzen:

Stöger war kühner und großzügiger als sie alle. Kaum der Schulpflicht entwachsen, erwarb er schon Geld und damit auch schon die moderne Visitkarte, die alle Türen öffnete, auch die des Theaters. Warum soll man nicht die Thespis zur Geliebten haben können, wenn man sie bezahlen kann? — —

Während es bis heute unaufgeklärt ist, mit wem die Neue Freie Presse, nämlich Herr Saiten, den »mythischen Hirten« Proteus verwechselt hat, läßt das Neue Wiener Tagblatt jeden profanen Leser hinter die Kulissen seiner klassischen Bildung gucken, da sofort klar wird, dass hier eine unerlaubte Verbindung zwischen der Thalia und der Themis vor sich gegangen ist. Der Thespis war aber bekanntlich der Erfinder der griechischen Raumbühne, die die Form eines Karrens hatte und von der Gemeinde Athen mit Recht subventioniert wurde. Dass er eine Direktrice war, ist nicht überliefert, und dass er kein Transvestit und überhaupt kein Homosexueller war, geht schon daraus hervor, dass er die griechische und nicht die preußische Tragödie begründet hat. In Berlin mögen immerhin Fälle vorgekommen sein, dass einer die Thespis soutenierte, während der Herr Thalia, der abends als Muse verkleidet ausging, nicht Brot auf Hosen hatte. Wie immer dem sei, so könnte man fragen, warum eigentlich — in Berlin wie in Wien — gerade die Leute, die nichts gelernt und selbst das nicht behalten haben, berufen sind, es einer breiten Öffentlichkeit von Lesern mitzuteilen. Vermutlich mit Recht, da keiner von den Hunderttausenden es bemerkt und in einer Zeit, da Photo, Kino, Radio, Auto und Aero über die Gehirne flitzen, es wirklich gehupft wie gesprungen ist, ob der oder die Thespis noch mit ihrem Karren daherkommt. Hier eingreifen zu wollen, hieße dem Sisyphus die Arbeit abnehmen, den sie regelmäßig mit dem Tantalus verwechseln, doch auch mit dem Augias, den sie zumeist für den Herkules halten, oder es käme der Füllung des Danaidenfasses gleich, das sie bekanntlich für ein Danaergeschenk ansehen, nämlich für jenes, mit dem der Jupiter die Danae überrascht hat. Da läßt sich gar nichts machen. Man müßte sich denn unterfangen, den Pelion auf den Ossa stülpen zu wollen oder wie einer unserer Burgtheaterkritiker gesagt hat: »den Ida auf die Ossa wälzen« (wobei er ganz gut wußte, dass der Ida keine Kellnerin im Trojanerbeisl ist, sondern der Berg, der in der »Schönen Helena« vorkommt, immerhin jedoch die Ossa für ein mährisches Gewässer zu halten schien). Dass die Penelope so häufig auch für die Niobe durchhalten muß, die Circe Rätsel aufgibt, während die Sphinx die leichtere Aufgabe hat, Männer in Schweine zu verwandeln, und dass dementsprechend der Odysseus und der Oedipus Austauschfürsten sind, versteht sich von selbst. Es ist aber auch schon vorgekommen, dass die Xanthippe für das Weib des Sophokles gehalten wurde, und was es zwischen Aristoteles, Aristophanes und Aristides für Möglichkeiten gibt, das ist mehr, als sich die Schulweisheit träumt. Meines Wissens hat es in den Jahren, da ich die Wiener Presse sämtliche griechischen und mythologischen Dinge und Namen verwechseln sehe, nur einen Fall gegeben, wo einer die humanistischen Kenntnisse, die ihm in der überraschend kurzen Zeit von zwei Gymnasialjahren zu erwerben gelang, durchaus bewährt hat. Das war, als im Extrablatt gemeldet wurde, in Fünfhaus sei der achtundachtzigjährige Emanuel Kohn gestorben, »der Nestor unter den Pferdefleiscbhauern«. Hier lag ganz bestimmt keine Verwechslung mit dem Ulysses vor. Sonst aber bewundere ich die Treffsicherheit, mit der die Wiener Journalisten in ihrer klassischen Bildung, die ohne Zweifel vorhanden ist, immer danebengreifen, und die Unerschrockenheit, mit der sie sich in den Strudel-Strudel hineinstürzen, ohne zu bedenken, dass zwischen Scylla und Charybdis unter anderen Gefahren doch auch die besteht, sie zu verwechseln. Welches Bild der Behutsamkeit, im Vergleich mit diesem ungestümen Walten, offenbarte sich mir einst in einem Gespräch zweier alter Chemnitzer Juden! Ich will nicht mit meiner Ausdauer renommieren, aber ich habe wirklich einige Tage meines Lebens in Chemnitz verbracht. Dort ward mir indes auch die Entschädigung des Augenblicks, den ich gern ums Verweilen gebeten hätte, als ich nämlich im Kaffeehause in einer Debatte, in der die Devisen und Prozente nur so durch die Luft schwirrten, die wohl noch nie gestellte, wichtige Frage hören konnte: »Bitt Sie, sagen Sie mir, was is eigentlich der Unterschied zwischen einer Hiobspost und einem Uriasbrief?« Der andere, überrascht und bestürzt, den Unterschied als erheblich fühlend und die Frage als berechtigt, sagte nach einigem Nachdenken: »Weiß ich?« Es war klar, dass keiner der beiden den Mut hätte, für eine Wiener Zeitung zu schreiben. Aber die jüngere Generation ahnt nicht einmal, dass der Unterschied der zwischen einer Botschaft ist, die dem Empfänger, und einer solchen, die dem Überbringer Unheil bringt, geschweige denn, dass sie wüßte, wer hier der Überbringer und wer dort der Empfänger ist. Zum Glück reduziert sich bei uns das Problem auf die Möglichkeiten, die die Wiener Postverhältnisse bieten. Uriasbriefe werden nicht zugestellt, weil diese Art der Beförderung ein Eingriff in das Regal wäre, und Hiobsposten gelangen nicht an den Adressaten, weil die Post sie befördert. Hin und wieder erhalte ich Briefe einer dritten Sorte, für die aber das alte Testament keine Bezeichnung vorgesehen hat, nämlich solche, die dem Absender Unheil bringen.

 

 

Dezember 1924.


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