Digression über das Völkerrecht und
die geschlossene Schelde


Ostende ist übrigens nur ein schlechter Ersatz für die geschlossene Schelde. Die Küste läuft in gerader Richtung, ohne Einbucht fort, und der Zugang zu dem Hafen wird durch viele Untiefen erschwert und unsicher gemacht. Zwischen zwei Dämmen sieht man die kleine, enge, unbequeme Öffnung, die nur bei gewissen Winden und nur mit der Flut zugänglich ist. Daher steht am Eingang, auf der Batterie, die ihn bestreicht, ein hoher Flaggestock errichtet, wo man eine Flagge ganz zu oberst wehen läßt, so lange es hohes Wasser ist; bei halber Ebbe läßt man sie am halben Stocke herunter, und sobald das Wasser den niedrigsten Standpunkt erreicht, wird sie ganz eingezogen. Alsdann liegen die Schiffe beinahe trocken im Hafen. Wir zählten in allem nur vierzig Fahrzeuge, obgleich der Hafen eine weit größere Anzahl aufnehmen kann. Eigentlich ist er nur ein tief ausgegrabener Kanal, mit einem dauerhaften pilotis zu beiden Seiten, zwischen welchem ein festes Geflecht von Strauchzäunen in vielen Reihen über einander fortläuft. Dadurch sucht man zu verhindern, dass die Ebbe und Flut den Hafen nicht versande, indem sie den Sand vom Ufer mit sich fortreißt. Über jeder jetée stehen Baaken aufgepflanzt, und links an der Mündung des Hafens dient eine Säule mit großen, klaren Laternen den Schiffenden des Nachts zum Merkzeichen. In den Hafen öffnen sich mehrere geräumige Bassins; allein bei allen diesen kostbaren Einrichtungen kämpft man vergebens mit den Schwierigkeiten der Lage, mit der geringen Tiefe, mit der unvermeidlichen Verschlemmung und mit der Veränderlichkeit der Sandbänke längs der Küste.

Ostende hatte nur einen glänzenden Augenblick; den nämlich, als es der einzige neutrale Hafen an der Küste war, als während des Amerikanischen Krieges England, Frankreich und Holland wechselseitig ihren Handel der feindlichen Kaperei Preis geben mußten und des Kaisers Flagge allein unangefochten den Ozean beschiffte. Die Geschäftigkeit und der Wohlstand jenes Zeitpunkts verschwanden aber mit dem Friedensschlusse um so plötzlicher, da sie nicht sowohl Wirkungen der eigenen Belgischen Betriebsamkeit, als vielmehr täuschende Erscheinungen waren, welche fremde Kaufleute hier zuwege gebracht hatten. Auch die freie Schiffahrt nach Ostindien, welche Joseph der Zweite diesem von ihm so sehr begünstigten Hafen trotz der Holländischen Reklamation zusicherte, blieb so unbedeutend, dass sie auf den Flor von Ostende keinen Einfluß hatte.

Ist es nicht erlaubt, bei jener widersinnigen Einschränkung des Belgischen Handels, bei dem Verbot nach Indien zu schiffen, bei der Verschließung der Schelde, über den Ton mancher Publicisten zu lächeln, die das heilige Wort Recht noch auszusprechen wagen? Diese unnatürliche Forderung der Holländer an ihre Nachbarn ist der siegreichste Beweis, dass die Eifersucht der Staaten, wo sie sich zur Übermacht gesellen kann, ohne Bedenken alle, selbst die evidentesten Rechte der Menschheit, verletzt und alle Grenzen des Völkerrechts willkürlich überschreitet. Josephs Vorfahren mußten sich diese, durch keinen Vorwand zu beschönigende Gewalttätigkeit gefallen lassen, weil das Schicksal es so wollte. Und wer forderte dieses unbillige Opfer? wer verbot den Brabantern auf ihren eigenen Flüssen in See zu fahren? Dasselbe Volk, das über Ungerechtigkeit schrie, als Englands Häfen ihm nicht offen blieben, das über Cromwells berühmte Navigationsakte, dieses Bollwerk des Englischen Seehandels, die Welt mit seinen Wehklagen erfüllte. Die Geschichte ist ein Gewebe von ähnlichen Inkonsequenzen und Widersprüchen; die Verträge der Nationen unter einander, wie die der Fürsten mit ihren Untergebenen, sind fast nirgends auf natürliches Recht, auf Billigkeit, die der Augenschein und der gerade Verstand zu erkennen geben, gegründet; überall zwingt der Übermut des Mächtigeren dem Schwachen eine Aufopferung ab, die kein Mensch von dem andern zu fordern berechtigt ist und die dann auch nicht länger gelten kann, als die Gewalt fortdauert, welche sie ertrotzte. Wir wundern oder ärgern uns, dass jedes Jahrzehend uns immer wieder dasselbe Schauspiel gibt, welches bereits seit Jahrtausenden die Völker entzweite; dass die Grenzstreitigkeiten, die man längst beigelegt glaubte, immer von neuem ausbrechen; dass die Federn der Diplomatiker und Staatsmänner unaufhörlich mit Deduktionen beschäftigt sind, worin man sich auf beschworene Verträge, auf anerkannte Vergleichspunkte und darin gegründete Ansprüche beruft; dass die streitenden Höfe zu einer subtilen Auslegungskunst, zu bequemen Reticenzen, zu schwankenden, vieldeutigen Ausdrücken ihre Zuflucht nehmen und endlich doch den verworrenen Knoten mit dem Schwerte lösen. Allein die fruchtbare Quelle ihrer Mißhelligkeiten strömt unvermindert fort; und wer begreift nicht, dass sie nie versiegen kann, so lange man von Friedenstraktaten, Verfassungen und Gesetzen ausgeht, die, weil sie nicht auf dem unerschütterlichen Grunde der allgemeinen vernünftigen Natur des Menschen ruhen, sondern Konvenienzen des Augenblickes oder Blendwerke politischer Sophismen sind, die Feuerprobe der Wahrheit nicht bestehen können? Keiner Nation, keiner Macht, keinem Stande wird tausendjähriger Besitz ein unveräußerliches Recht übertragen; die Ansprüche der Vernunft auf alle Menschenrechte dauern ewig und werden durch gewalttätige Übertäubung eher verstärkt als verjährt. Nach tausend und zehntausend Siegen der räuberischen Übermacht, die nur das Maß ihrer Ungerechtigkeit häufen, kehrt der wahre, dauernde Friede dann erst zurück, wenn jeder Usurpation gesteuert worden und jeder Mensch in seine Rechte getreten ist.

Wir würden den Tyrannen verwünschen hören, der dem einzelnen Menschen das freie Verkehr auf offener Heerstraße, außer den Mauern seines Hauses oder den Grenzen seines Erbstückes, untersagte; unser Gefühl empört sich wirklich, wenn wir nur von Verboten dieser Art lesen, die ein Asiatischer Herrscher ergehen läßt, so oft es ihm gefällt, seine Heerde von Beischläferinnen frische Luft schöpfen zu lassen. Wer indes zugeben will, dass eine despotische Gewalt rechtmäßig sein könne, dem ließe sich auch diese willkürliche Anwendung derselben als gesetzmäßig erweisen. Die Verordnungen der Japanischen und Chinesischen Kaiser, die von ihren Reichen alle Fremden entfernen, scheinen uns zwar elende Verwahrungsmittel einer feigen, mißtrauischen, kurzsichtigen Politik; allein wir bestreiten nicht das Recht dieser Despoten, innerhalb der Grenzen ihres Landes jedem Ausländer den Zutritt zu wehren oder zu gestatten. Hingegen das ausschließende Eigentumsrecht irgend eines Volkes zum Ozean ist eine so lächerliche Absurdität, dass der Übermut gewisser Seemächte, statt einer Anerkennung ihrer Anmaßungen, nur den Haß, den Neid und Groll der Nebenbuhler hat erregen können. Wo bleibt also nun der Schatten des Rechts, kraft dessen die Holländer ihren Nachbarn die Schelde verschließen und den Handel auf dem Meere verweigern durften? Der allgemeine Kongreß des Menschengeschlechtes müßte allenfalls einstimmig beschlossen haben, dass die Belgier ihre Flüsse von der Natur umsonst empfangen, dass der Ozean vergebens ihre Küsten bespühlt – doch, was sage ich? auch dieser Ausspruch würde noch ungerecht sein, wenn nicht zugleich ein Nationalverbrechen erwiesen werden könnte, das jene Ausschließung als Strafe oder vielmehr als Notwehr nach sich zöge. Ein solches Verbrechen aber, einer ganzen Nation gegen die gesamte Menschengattung – worin anders könnte es bestehen, als in einer gänzlichen Verkennung aller Rechte der Nachbarn? Das strafbare Volk müßte selbst, entweder aus eigener Willkür oder im gemißbrauchten Namen der Gottheit, die Welt unterjochen und ihre Bewohner unumschränkt beherrschen wollen – es müßte ein Volk von Eroberern oder von Priestern sein. Wie man einen Rasenden bindet, um nicht das Opfer seiner Wut zu werden, so sind auch alle Maßregeln erlaubt, welche die Selbsterhaltung gegen eine Gesellschaft von solchen Grundsätzen heischt; sobald sie fremdes Recht mit Füßen tritt, ist sie alles eigenen verlustig.

Gegen die Römer, als sie nach der Alleinherrschaft über die bekannte Erde dürsteten, gegen Philipp den Zweiten, gegen die Hildebrande und die Borgia sollte der allgemeine Völkerbund aufgestanden sein, ihre Schwerter und Zepter zerbrochen und ihren Mörderhänden Fesseln angelegt haben. Spaniens Ohnmacht zur Zeit des Münsterischen Friedens drohte ja den Europäischen Mächten mit keiner Universalmonarchie; die schwache Seele Philipps des Vierten durfte und konnte diesen Riesengedanken nicht denken. Allein das Schlimmste vorausgesetzt, so hatten doch die Belgier nicht verdient, statt ihres Herrschers zu büßen. Wenn also die unerbittliche Notwendigkeit ihnen damals eine stillschweigende Einwilligung in die Verschließung ihrer Flüsse abdrang – wird heute etwas anderes, als dieselbe Furcht vor feindlicher Überlegenheit, ihre Enkel abhalten können, ihr angebornes, nie zu veräußerndes Recht zurückzufordern und den schimpflichen Vergleich zu zerreißen? Ein zerrissener Vergleich! ein Riß im Westphälischen Frieden! Das sind freilich gräßliche Worte am Ohr des Aktenlesers, der über dieses Lesen seine Menschheit verwelken und verdorren ließ; allein wie mancher Schwertstich hat nicht schon das alte Pergament durchlöchert? Was die Potentaten von Europa einander garantierten, sollte freilich ewig dauern müssen; nur Schade, dass die Erfahrung hier die Theorie so bündig widerlegt, und jedem Fürstenvertrage keine längere Dauer verspricht, als bis zur nächsten Gelegenheit, wo er mit Vorteil gebrochen werden kann. In der Seele der Politik ist ein Friedenstraktat vom Augenblick der Unterzeichnung an vernichtet; denn in diesem Augenblick hatte sie ihren Endzweck durch ihn erreicht.

Gegen die Theorie selbst möchte der gesunde Verstand auch wohl erhebliche Einwendungen machen. Wie? es hätte nur der Übereinkunft etlicher hohlen oder schiefen Köpfe bedurft, um einem Volk den Gebrauch eines unteilbaren Elements einzuräumen und ihn dem andern abzusprechen? Dann könnte es wohl auch einem Friedenskongreß einfallen, diesem oder jenem Volk Luft und Feuer zu verbieten, oder ihm vorzuschreiben, wo und wenn es athmen solle? Doch es ist unmöglich, die Anmaßungen der Politiker hypothetisch weiter zu treiben, als sie wirklich in der Ausübung getrieben worden sind. Hat man sich doch, allem, was der Menschheit heilig ist, zum Hohn, nicht entblödet, in Friedensschlüssen vorzuschreiben, welche Modifikationen des Denkens und Glaubens erlaubt sein sollen! Es mag ein köstliches Ding um das Bündnis von 1648 sein, das doch bekanntlich den Ausbruch von zehn oder mehr blutigen Kriegen nicht verhindert hat; es mag einer gewissen Klasse von Menschen bequemer sein, den Krüppelbau der Politik auf seinem morschen Grunde fortzusetzen, als die ewigen Pfeiler, Natur und Vernunft, zu Stützen eines unerschütterlichen Friedenstempels zu wählen; einträglicher, den Stoff zu neuem Zwist und Kriege beizubehalten und die Beschlüsse der Unwissenheit und der Despotenarroganz für Quellen des Rechtes und Gesetzes auszuschreien, als jenes unselige Joch der Autoritäten abzuschütteln: nur hoffe man nicht, dass eine Gesetzgebung, der es an innerer Gerechtigkeit gebricht, aus Überzeugung befolgt werden könne; nur beschuldige man die Völker nicht des Mangels an Moralität, wenn sie Traktaten verletzen, deren Erhaltung einzig und allein auf Furcht und Eifersucht beruhte. Der Ozean ist keines Menschen Eigentum; er ist und bleibt allen gemein, die ihn benutzen wollen. Mit diesem Refrain will ich Ostende verlassen.




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 © textlog.de 2004 • 22.11.2024 02:16:51 •
Seite zuletzt aktualisiert: 17.11.2007 
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