b. Die Form des lyrischen Kunstwerks
ββ) Überhaupt braucht die Situation, in welcher der Dichter sich darstellt, sich nicht bloß auf das Innere als solches zu beschränken, sondern darf sich als konkrete und damit auch äußerliche Totalität erweisen, indem der Dichter sich in ebenso subjektivem als realem Dasein gibt. In den eben angeführten Anakreontischen Liedern z. B. schildert sich der Dichter unter Rosen, schönen Mädchen und Knaben, bei Wein und Tanz in dem heiteren Genuß, ohne Verlangen und Sehnsucht, ohne Pflicht und Verabsäumung höherer Zwecke, die hier gar nicht vorhanden sind, wie einen Heros, der unbefangen und frei und daher ohne Beschränktheit oder Mangel nur dieses eine ist, was er ist: ein Mensch seiner eigenen Art als subjektives Kunstwerk.
Auch in den Liebesliedern des Hafis sieht man die ganze lebendige Individualität des Dichters, wechselnd an Inhalt, Stellung, Ausdruck, so daß es beinah zum Humor fortgeht. Doch hat er kein besonderes Thema bei seinen Gedichten, kein objektives Bild, keinen Gott, keine Mythologie - ja, wenn man diese freien Ergüsse liest, fühlt man, daß die Orientalen überhaupt keine Gemälde und bildende Kunst haben konnten; er geht von einem Gegenstande zum anderen, er läßt sich überall herumgehen, aber es ist eine Szene, worin immer der ganze Mann mit seinem Wein, Schenken, Mädchen, Hof usf. in schöner Offenheit, ohne Begierde und Selbstsucht in reinem Genuß Äug in Auge, Seele in Seele vor uns gebracht ist. - Proben dieser Art der Darstellung einer nicht nur inneren, sondern auch äußeren Situation lassen sich aufs mannigfaltigste angeben. Führt sich jedoch der Dichter so in seinen subjektiven Zuständen aus, so sind wir nicht geneigt, etwa die partikulären Einbildungen, Liebschaften, häuslichen Angelegenheiten, Vetter- und Basengeschichten kennenzulernen, wie dies selbst bei Klopstocks Cidli und Fanny*) der Fall ist; sondern wir wollen etwas Allgemeinmenschliches, um es poetisch mitempfinden zu können, vor Augen haben. Von dieser Seite her kann deshalb die Lyrik leicht zu der falschen Prätention fortgehen, daß an und für sich schon das Subjektive und Partikuläre von Interesse sein müsse. Dagegen kann man viele der Goetheschen Lieder, obschon Goethe sie nicht unter dieser Rubrik aufgeführt hat, gesellige Lieder nennen. In Gesellschaft nämlich gibt man nicht sich selbst; im Gegenteil, man stellt seine Partikularität zurück und unterhält durch ein Drittes, eine Geschichte, Anekdote, durch Züge von anderen, die man dann in besonderer Laune auffaßt und dem eigenen Tone gemäß durchführt. In diesem Falle ist der Dichter er selbst und auch nicht; er gibt nicht sich, sondern etwas zum besten und ist gleichsam ein Schauspieler, der unendlich viele Rollen durchspielt, jetzt hier, dann dort verweilt, hier eine Szene, dort eine Gruppierung einen Augenblick festhält, doch, was er auch darstellen mag, immer zugleich sein eigenes künstlerisches Inneres, das Selbstempfundene und Durchlebte lebendig darein verwebt.
γγ) Ist nun aber die innere Subjektivität der eigentliche Quell der Lyrik, so muß ihr auch das Recht bleiben, sich auf den Ausdruck rein innerlicher Stimmungen, Reflexionen usf. zu beschränken, ohne sich zu einer konkreten, auch in ihrer Äußerlichkeit dargestellten Situation auseinanderzulegen. In dieser Rücksicht erweist sich selbst das ganz leere Lirum-larum, das Singen und Trällern rein um des Singens willen als echt lyrische Befriedigung des Gemüts, dem die Worte mehr oder weniger bloße gleichgültige Vehikel für die Äußerung der Heiterkeiten und Schmerzen werden, doch als Ersatz nun auch sogleich die Hilfe der Musik herbeirufen. Besonders Volkslieder gehen häufig über diese Ausdrucksweise nicht hinaus. Auch in Goetheschen Liedern, bei denen es dann aber schon zu einem bestimmteren, reichhaltigeren Ausdruck kommt, ist es oft nur irgendein einzelner momentaner Scherz, der Ton einer flüchtigen Stimmung, aus dem der Dichter nicht herausgeht und daraus ein Liedchen macht, einen Augenblick zu pfeifen. In anderen behandelt er dagegen ähnliche Stimmungen weitläufiger, selbst methodisch, wie z. B. in dem Liede »Ich hab mein Sach auf nichts gestellt«, wo erst Geld und Gut, dann die Weiber, Reisen, Ruhm und Ehre und endlich Kampf und Krieg als vergänglich erscheinen und die freie sorglose Heiterkeit allein der immer wiederkehrende Refrain bleibt. - Umgekehrt aber kann sich auf diesem Standpunkte das subjektive Innere gleichsam zu Gemütssituationen der großartigsten Anschauung und der über alles hinblickenden Ideen erweitern und vertiefen. Von dieser Art ist z. B. ein großer Teil der Schillerschen Gedichte. Das Vernünftige, Große ist Angelegenheit seines Herzens; doch besingt er weder hymnenartig einen religiösen oder substantiellen Gegenstand, noch tritt er bei äußeren Gelegenheiten auf fremden Anstoß als Sänger auf, sondern fängt im Gemüte an, dessen höchste Interessen bei ihm die Ideale des Lebens, der Schönheit, die unvergänglichen Rechte und Gedanken der Menschheit sind.
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*) Klopstocks Oden »An Cidli« und »An Fanny«