a. Der Inhalt des lyrischen Kunstwerks
Der Inhalt des lyrischen Kunstwerks kann nicht die Entwicklung einer objektiven Handlung in ihrem zu einem Weltreichtum sich ausbreitenden Zusammenhange sein, sondern das einzelne Subjekt und eben damit das Vereinzelte der Situation und der Gegenstände sowie der Art und Weise, wie das Gemüt mit seinem subjektiven Urteil, seiner Freude, Bewunderung, seinem Schmerz und Empfinden überhaupt sich in solchem Gehalte zum Bewußtsein bringt. Durch dies Prinzip der Besonderung, Partikularität und Einzelheit, welches im Lyrischen liegt, kann der Inhalt von der höchsten Mannigfaltigkeit sein und alle Richtungen des nationalen Lebens betreffen, doch mit dem wesentlichen Unterschiede, daß, wenn das Epos in ein und demselben Werke die Totalität des Volksgeistes in seiner wirklichen Tat und Zuständlichkeit auseinanderlegt, der bestimmtere Gehalt des lyrischen Gedichts sich auf irgendeine besondere Seite beschränkt oder doch wenigstens nicht zu der explizierten Vollständigkeit und Entfaltung gelangen kann, welche das Epos, um seine Aufgabe zu erfüllen, haben muß. Die gesamte Lyrik eines Volkes darf deshalb wohl die Gesamtheit der nationalen Interessen, Vorstellungen und Zwecke durchlaufen, nicht aber das einzelne lyrische Gedicht. Poetische Bibeln, wie wir sie in der epischen Poesie fanden, hat die Lyrik nicht aufzuzeigen. Dagegen genießt sie den Vorzug, fast zu allen Zeiten der nationalen Entwicklung entstehen zu können, während das eigentliche Epos an bestimmte ursprüngliche Epochen gebunden bleibt und in späteren Tagen prosaischer Ausbildung nur dürftiger gelingt.
α) Innerhalb dieser Vereinzelung nun steht auf der einen Seite das Allgemeine als solches, das Höchste und Tiefste des menschlichen Glaubens, Vorstellens und Erkennens: der wesentliche Gehalt der Religion, Kunst, ja selbst der wissenschaftlichen Gedanken, insofern dieselben sich noch der Form der Vorstellung und der Anschauung fügen und in die Empfindung eingehen. Allgemeine Ansichten, das Substantielle einer Weltanschauung, die tieferen Auffassungen durchgreifender Lebensverhältnisse sind deshalb aus der Lyrik nicht ausgeschlossen, und ein großer Teil des Inhalts, den ich bei Gelegenheit der unvollkommneren Arten des Epos berührt habe (Bd. III, S. 325-328), fällt somit auch dieser neuen Gattung gleichmäßig anheim.
β) Zu der Sphäre des in sich Allgemeinen tritt sodann zweitens die Seite der Besonderheit, welche sich nun mit dem Substantiellen einesteils so verweben kann, daß irgendeine einzelne Situation, Empfindung, Vorstellung usf. in ihrer tieferen Wesentlichkeit erfaßt und somit selber in substantieller Weise ausgesprochen wird. Dies ist z. B. durchweg beinahe bei Schiller der Fall sowohl in den eigentlich lyrischen Gedichten als auch in den Balladen, in betreff auf welche ich nur an die grandiose Beschreibung des Eumenidenchors in den „Kranichen des Ibykus« erinnern will, die weder dramatisch noch episch, sondern lyrisch ist. Anderenteils kann die Verbindung so zustande kommen, daß eine Mannigfaltigkeit besonderer Züge, Zustände, Stimmungen, Vorfälle usf. sich als wirklicher Beleg für weitumfassende Ansichten und Aussprüche einreiht und durch das Allgemeine lebendig hindurchwindet. In der Elegie und Epistel z. B., überhaupt bei reflektierender Weltbetrachtung wird diese Art der Verknüpfung häufig benutzt.
γ) Indem es endlich im Lyrischen das Subjekt ist, das sich ausdrückt, so kann demselben hierfür zunächst der an sich geringfügigste Inhalt genügen. Dann nämlich wird das Gemüt selbst, die Subjektivität als solche der eigentliche Gehalt, so daß es nur auf die Seele der Empfindung und nicht auf den näheren Gegenstand ankommt. Die flüchtigste Stimmung des Augenblicks, das Aufjauchzen des Herzens, die schnell vorüberfahrenden Blitze sorgloser Heiterkeiten und Scherze, Trübsinn und Schwermut, Klage, genug, die ganze Stufenleiter der Empfindung wird hier in ihren momentanen Bewegungen oder einzelnen Einfallen über die verschiedenartigsten Gegenstände festgehalten und durch das Aussprechen dauernd gemacht. Hier tritt im Felde der Poesie das Ähnliche ein, was ich früher bereits in bezug auf die Genremalerei berührt habe (Bd. II, S. 224 f.). Der Inhalt, die Gegenstände sind das ganz Zufällige, und es handelt sich nur noch um die subjektive Auffassung und Darstellung, deren Reiz in der lyrischen Poesie teils in dem zarten Hauche des Gemüts, teils in der Neuheit frappanter Anschauungsweisen und in dem Witz überraschender Wendungen und Pointen liegen kann.