c. Die von der Poesie unabhängigere theatralische Kunst


Einen dritten Standpunkt endlich nimmt die ausübende Kunst dadurch ein, daß sie sich von der bisherigen Herrschaft der Poesie loslöst und dasjenige, was bisher mehr oder minder bloße Begleitung und Mittel war, zum selbständigen Zwecke macht und für sich zur Ausbildung gelangen läßt. Zu dieser Emanzipation geht im Verlaufe der dramatischen Entwicklung sowohl die Musik und der Tanz als auch die eigentliche Kunst des Schauspielers fort.

α) Was zunächst diesen angeht, so gibt es überhaupt für seine Kunst zwei Systeme. Das erstere, nach welchem der Darsteller mehr nur das geistig und leiblich lebendige Organ des Dichters sein soll, haben wir soeben berührt. Die Franzosen, welche viel auf Rollenfächer und Schule halten und überhaupt typischer in ihren theatralischen Darstellungen sind, haben sich besonders diesem Systeme in ihrer Tragödie und haute comedie treu erwiesen. Die umgekehrte Stellung nun der Schauspielkunst ist darin zu suchen, daß alles, was der Dichter gibt, mehr nur ein Akzessorium und der Rahmen wird für das Naturell, die Geschicklichkeit und Kunst des Akteurs. Man kann häufig genug das Verlangen der Schauspieler hören: die Dichter sollten für sie schreiben. Die Dichtung braucht dann dem Künstler nur die Gelegenheit zu geben, seine Seele und Kunst, dies Letzte seiner Subjektivität, zu zeigen und zur glänzendsten Entfaltung kommen zu lassen. Von dieser Art war schon bei den Italienern die Commedia dell'arte, in welcher zwar die Charaktere des arlecchino, dottore usf. feststanden und die Situationen und Szenenfolge gegeben waren, die weitere Ausführung aber fast durchweg den Schauspielern überlassen blieb. Bei uns sind zum Teil die Ifflandschen und Kotzebueschen Stücke, überhaupt eine große Anzahl für sich - von selten der Poesie her betrachtet - unbedeutender, ja ganz schlechter Produkte solch eine Gelegenheit für die freie Produktivität des Schauspielers, der aus diesen meist skizzenhafter behandelten Machwerken nun erst etwas bilden und gestalten muß, was dieser lebendigen, selbständigen Leistung wegen ein eigentümliches, gerade an diesen und keinen anderen Künstler gebundenes Interesse erhält. Hier hat denn auch besonders die bei uns vielbeliebte Natürlichkeit ihren Platz, worin man es zur Zeit so weit gebracht hatte, daß man ein Brummen und Murmeln der Worte, von denen niemand etwas verstand, als ein vortreffliches Spiel gelten ließ. Goethe, ganz im Gegenteil, übersetzte Voltaires Tancredunö Mahomettür die weimarische Bühne, um seine Schauspieler aus der gemeinen Natürlichkeit herauszutreiben und an einen höheren Ton zu gewöhnen. Wie denn die Franzosen überhaupt, mitten selbst in der Lebendigkeit der Posse, immer das Publikum im Auge behalten und gegen dasselbe hinausgewendet bleiben. Mit der bloßen Natürlichkeit und deren lebendiger Routine ist auch in der Tat die Sache ebensowenig abgetan als mit der bloßen Verständigkeit und Geschicklichkeit der Charakteristik; sondern wenn der Schauspieler in diesem Kreise wahrhaft künstlerisch wirken will, muß er sich zu einer ähnlich genialen Virtuosität erheben, wie ich sie früher bereits bei Gelegenheit der musikalischen Exekution (Bd. III, S. 218-222) bezeichnet habe.

β) Das zweite Gebiet, das zu diesem Kreise gezählt werden kann, ist die moderne Oper, nach der bestimmten Richtung hin, die sie mehr und mehr zu nehmen anfängt. Wenn nämlich in der Oper überhaupt schon die Musik die Hauptsache ist, welche wohl von der Poesie und der Rede ihren Inhalt zugeteilt erhält, denselben aber frei nach ihren Zwecken behandelt und ausführt, so ist sie in neuerer Zeit besonders bei uns mehr Luxussache geworden und hat die Accessoires, die Pracht der Dekorationen, den Pomp der Kleider, die Fülle der Chöre und deren Gruppierung zu überwiegender Selbständigkeit gebracht. Über den ähnlichen Prunk, den man jetzt oft genug tadeln hört, klagt schon Cicero in betreff der römischen Tragödie. Im Trauerspiel, wo immer die Poesie die Substanz bleiben muß, hat allerdings solch ein Aufwand der sinnlichen Außenseite, obschon auch Schiller in seiner Jungfrau auf diesen Abweg geraten ist, nicht seine rechte Stelle. Für die Oper hingegen kann man bei der Sinnenpracht des Gesanges und dem klingenden, rauschenden Chor der Stimmen und Instrumente diesen für sich heraustretenden Reiz der äußeren Ausstattung und Exekution wohl zulassen. Denn sind einmal die Dekorationen prächtig, so dürfen es, um ihnen die Spitze zu bieten, die Anzüge nicht weniger sein, und damit muß dann auch das übrige in Einklang stehen. Solch einem sinnlichen Pomp, der freilich jedesmal ein Zeichen von dem bereits eingetretenen Verfall der echten Kunst ist, entspricht dann als der angemessenste Inhalt besonders das aus dem verständigen Zusammenhange herausgerissene Wunderbare, Phantastische, Märchenhafte, von dem uns Mozart in seiner Zauberflöte das maßvoll und künstlerisch durchgeführteste Beispiel gegeben hat. Werden aber alle Künste der Szenerie, des Kostüms, der Instrumentierung usf. erschöpft, so bleibt es am besten, wenn mit dem eigentlich dramatischen Inhalte nicht vollständig Ernst gemacht ist und uns zumute wird, als läsen wir in den Märchen von Tausendundeine Nacht.

γ) Das Ähnliche gilt von dem heutigen Ballett, dem gleichfalls vor allem das Märchenhafte und Wunderbare zusagt. Auch hier ist einerseits, außer der malerischen Schönheit der Gruppierungen und Table-aus, vornehmlich die wechselnde Pracht und der Reiz der Dekorationen, Kostüme und Beleuchtung zur Hauptsache geworden, so daß wir uns wenigstens in ein Bereich versetzt finden, in welchem der Verstand der Prosa und die Not und Bedrängung des Alltäglichen weit hinter uns liegt. Andererseits ergötzen sich die Kenner an der ausgebildetsten Bravour und Geschicklichkeit der Beine, die in dem heutigen Tanze die erste Rolle spielen. Soll aber durch diese jetzt bis ins Extrem des Sinnlosen und der Geistesarmut verirrten bloßen Fertigkeit noch ein geistiger Ausdruck hindurchscheinen, so gehört dazu, nach vollständiger Besiegung sämtlicher technischer Schwierigkeiten, ein Maß und Seelenwohllaut der Bewegung, eine Freiheit und Grazie, die von höchster Seltenheit ist. Als zweites Element kommt dann zu dem Tanze, der hier an die Stelle der Chöre und Solopartien der Oper tritt, als eigentlicher Ausdruck der Handlung die Pantomime, welche jedoch, je mehr der moderne Tanz an technischer Künstlichkeit zugenommen hat, in ihrem Werte herabgesunken und in Verfall geraten ist, so daß aus dem heutigen Ballett mehr und mehr das zu verschwinden droht, was dasselbe in das freie Gebiet der Kunst hinüberzuheben allein imstande sein könnte.


 © textlog.de 2004 • 19.12.2024 00:18:06 •
Seite zuletzt aktualisiert: 14.09.2004 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright