b. Die Schauspielerkunst
Mit der wirklichen dramatischen Aufführung nun ist neben der Musik eine zweite ausübende Kunst, die Schauspielerkunst, gegeben, welche sich vollständig erst in neuerer Zeit entwickelt hat. Ihr Prinzip besteht darin, daß sie zwar Gebärde, Aktion, Deklamation, Musik, Tanz und Szenerie herbeiruft, die Rede aber und deren poetischen Ausdruck als die überwiegende Macht bestehen läßt. Dies ist für die Poesie als Poesie das einzig richtige Verhältnis. Denn sobald sich die Mimik oder der Gesang und Tanz für sich selbständig auszubilden anfangen, wird die Poesie als Dichtkunst zum Mittel herabgesetzt und verliert ihre Herrschaft über diese sonst nur begleitenden Künste. In dieser Rücksicht lassen sich folgende Standpunkte unterscheiden.
α) Auf einer ersten Stufe finden wir die Schauspielerkunst der Griechen. Hier verbindet sich einerseits die redende Kunst mit der Skulptur; das handelnde Individuum tritt als objektives Bild in totaler Körperlichkeit heraus. Insofern sich aber die Statue belebt, den Inhalt der Poesie in sich aufnimmt und ausspricht, in jede innere Bewegung der Leidenschaften hineingeht und sie zugleich zum Wort und zur Stimme werden läßt, ist diese Darstellung beseelter und geistig klarer als jede Statue und jedes Gemälde. In betreff auf diese Beseelung nun können wir zwei Seiten unterscheiden.
αα) Erstens die Deklamation als künstlerisches Sprechen. Sie war bei den Griechen wenig ausgebildet; die Verständlichkeit machte die Hauptsache aus, während wir die ganze Objektivität des Gemüts und Eigentümlichkeit des Charakters in den feinsten Schattierungen und Übergängen wie in den schärferen Gegensätzen und Kontrasten, im Ton und Ausdruck der Stimme und in der Art der Rezitation wiedererkennen wollen. Dagegen fügten die Alten teils zur Heraushebung des Rhythmus, teils zum modulationsreicheren Ausdruck der Worte, wenn diese auch das Überwiegende blieben, der Deklamation die Musikbegleitung hinzu. Doch wurde der Dialog wahrscheinlich gesprochen oder nur leicht begleitet, die Chöre dagegen in lyrisch-musikalischer Weise vorgetragen. Der Gesang mochte durch seine schärfere Akzentuation die Wortbedeutung der Chorstrophen verständlicher machen, sonst weiß ich wenigstens nicht, wie es den Griechen möglich wurde, die Chöre des Aischylos und Sophokles zu verstehen. Denn wenn sie sich auch nicht so damit herumzuplagen nötig hatten als wir, so muß ich doch sagen: obschon ich Deutsch verstehe und etwas fassen kann, würde mir doch eine im ähnlichen Stil geschriebene deutsche Lyrik, vom Theater herab gesprochen und vollends gesungen, immer unklar bleiben.
ββ) Ein zweites Element gab die körperliche Gebärde und Bewegung ab. In dieser Rücksicht ist sogleich bemerkenswert, daß bei den Griechen, da ihre Schauspieler Masken trugen, das Mienenspiel ganz fortblieb. Die Gesichtszüge gaben ein unveränderliches Skulpturbild, dessen Plastik den vielbeweglichen Ausdruck partikulärer Seelenstimmungen ebensowenig in sich aufnahm als die handelnden Charaktere, welche ein festes allgemeines Pathos in seinem dramatischen Kampfe durchfochten und die Substanz dieses Pathos sich weder zur Innigkeit des modernen Gemüts vertiefen noch zur Besonderheit heutiger dramatischer Charaktere ausbreiten ließen. Ebenso einfach war die Aktion, weshalb wir auch nichts von berühmten griechischen Mimen wissen. Zum Teil spielten die Dichter selber, wie es z. B. noch Sophokles und Aristophanes taten, zum Teil traten Bürger, die gar kein Metier aus der Kunst machten, in der Tragödie auf. Dagegen wurden die Chorgesänge mit Tanz begleitet, was wir Deutsche bei der heutigen Art des Tanzes für leichtsinnig erachten würden, während es bei den Griechen schlechthin zur sinnlichen Totalität ihrer Theateraufführungen gehörte.
γγ) So bleibt denn bei den Alten dem Wort und der geistigen Äußerung der substantiellen Leidenschaften ein ebenso volles poetisches Recht, als die äußere Realität durch Musikbegleitung und Tanz die vollständigste Ausbildung erhält. Diese konkrete Einheit gibt der ganzen Darstellung einen plastischen Charakter, indem sich das Geistige nicht für sich verinnerlicht und in dieser partikularisierteren Subjektivität zum Ausdruck kommt, sondern sich mit der gleichmäßig berechtigten Außenseite sinnlicher Erscheinung vollkommen verschwistert und versöhnt.
β) Unter Musik und Tanz jedoch leidet die Rede, insofern sie die geistige Äußerung des Geistes bleiben soll, und so hat denn auch die moderne Schauspielerkunst sich von diesen Elementen zu befreien gewußt. Der Dichter erhält deshalb hier nur noch ein Verhältnis zum Schauspieler als solchem, welcher durch Deklamation, Mienenspiel und Gebärden das poetische Werk zur sinnlichen Erscheinung bringen soll. Dieser Bezug des Autors auf das äußere Material ist jedoch den anderen Künsten gegenüber ganz eigentümlicher Art. In der Malerei und Skulptur bleibt es der Künstler selber, welcher seine Konzeptionen in Farben, Erz oder Marmor ausführt, und wenn auch die musikalische Exekution fremder Hände und Kehlen bedarf, so überwiegt hier, obschon freilich die Seele des Vertrags nicht fehlen muß, dennoch mehr oder weniger die mechanische Kunstfertigkeit und Virtuosität. Der Schauspieler dagegen tritt als ganzes Individuum mit seiner Gestalt, Physiognomie, Stimme usf. in das Kunstwerk hinein und erhält die Aufgabe, mit dem Charakter, den er darstellt, ganz und gar zusammenzugehen.
αα) In dieser Rücksicht hat der Dichter das Recht, vom Schauspieler zu fordern, daß er sich, ohne von dem Seinigen hinzuzutun, ganz in die gegebene Rolle hineindenke und sie so ausführe, wie der Dichter sie konzipiert und poetisch ausgestaltet hat. Der Schauspieler soll gleichsam das Instrument sein, auf welchem der Autor spielt, ein Schwamm, der alle Farben aufnimmt und unverändert wiedergibt. Bei den Alten war dies leichter, da die Deklamation sich, wie gesagt, hauptsächlich auf die Deutlichkeit beschränkte und die Seite des Rhythmus usf. von der Musik besorgt wurde, während die Masken die Gesichtszüge bedeckten und auch der Aktion kein großer Spielraum blieb. Dadurch konnte sich der Akteur ohne Schwierigkeit dem Vortrage eines allgemeinen tragischen Pathos gemäß machen, und wenn auch in der Komödie Porträtbilder lebender Personen, wie z. B. des Sokrates, Nikias, Kleon usf. dargestellt werden sollten, so bildeten teils die Masken diese individuellen Züge treffend nach, teils bedurfte es einer näheren Individualisierung weniger, indem Aristophanes dergleichen Charaktere doch nur benutzte, um dadurch allgemeine Zeitrichtungen zu repräsentieren.
ββ) Anders dagegen verhält es sich im modernen Schauspiel. Hier nämlich fallen die Masken und die Musikbegleitung fort, und an deren Stelle tritt das Mienenspiel, die Mannigfaltigkeit der Gebärde und die reichhaltig nuancierte Deklamation. Denn einerseits müssen die Leidenschaften, selbst wenn sie allgemeiner in gattungsmäßiger Charakteristik vom Dichter ausgedrückt sind, sich doch als subjektiv lebendig und innerlich kundgeben, andererseits erhalten die Charaktere großenteils eine bei weitem breitere Besonderheit, deren eigentümliche Äußerung uns gleichfalls in lebendiger Wirklichkeit vor Augen kommen soll. Die Shakespeareschen Figuren vornehmlich sind für sich fertige, abgeschlossene, ganze Menschen, so daß wir vom Schauspieler verlangen, daß er sie nun seinerseits gleichfalls in dieser vollen Totalität vor unsere Anschauung bringe. Ton der Stimme, Art der Rezitation, Gestikulation, Physiognomie, überhaupt die ganze innere und äußere Erscheinung forciert deshalb eine der bestimmten Rolle angemessene Eigentümlichkeit. Dadurch wird außer der Rede auch das vielseitig nuancierte Gebärdenspiel von ganz anderer Bedeutung; ja, der Dichter überläßt hier der Gebärde des Schauspielers vieles, was die Alten durch Worte würden ausgedrückt haben. So z. B. am Schluß des Wallenstein. Der alte Octavio hat zum Untergange Wallensteins wesentlich mitgewirkt; er findet ihn auf Buttlers Anstiften meuchlings ermordet, und in demselben Augenblicke, als nun auch die Gräfin Terzky verkündigt, sie habe Gift genommen, trifft ein kaiserliches Schreiben ein; Gordon hat die Aufschrift gelesen und übergibt den Brief dem Octavio mit einem Blick des Vorwurfs, indem er sagt: »Dem Fürsten Piccolomini.« Octavio erschrickt und blickt schmerzvoll zum Himmel. Was Octavio bei dieser Belohnung für einen Dienst empfindet, an dessen blutigem Ausgang er selbst den größeren Teil der Schuld zu tragen hat, ist hier nicht in Worte gefaßt, sondern der Ausdruck ganz an die Mimik des Akteurs gewiesen. - Bei diesen Forderungen nun der modernen dramatischen Schauspielkunst kann die Poesie dem Material ihrer Darstellung gegenüber häufig in ein Gedränge geraten, welches die Alten nicht kannten. Der Schauspieler nämlich, als lebendiger Mensch, hat in Rücksicht auf Organ, Gestalt, physiognomischen Ausdruck wie jedes Individuum seine angeborene Eigentümlichkeit, welche er teils gegen den Ausdruck eines allgemeinen Pathos und einer gattungsmäßigen Charakteristik aufzuheben, teils mit den volleren Gestalten einer reicher individualisierenden Poesie in Einklang zu setzen genötigt ist.
γγ) Man heißt jetzt die Schauspieler Künstler und zollt ihnen die ganze Ehre eines künstlerischen Berufs; ein Schauspieler zu sein ist unserer heutigen Gesinnung nach weder ein moralischer noch ein gesellschaftlicher Makel. Und zwar mit Recht; weil diese Kunst viel Talent, Verstand, Ausdauer, Fleiß, Übung, Kenntnis, ja auf ihrem Gipfelpunkte selbst einen reichbegabten Genius fordert. Denn der Schauspieler muß nicht nur in den Geist des Dichters und der Rolle tief eindringen und seine eigene Individualität im Inneren und Äußeren demselben ganz angemessen machen, sondern er soll auch mit eigener Produktivität in vielen Punkten ergänzen, Lücken ausfüllen, Übergänge finden und uns überhaupt durch sein Spiel den Dichter erklären, insofern er alle geheimen Intentionen und tiefer liegenden Meisterzüge desselben zu lebendiger Gegenwart sichtbar herausführt und faßbar macht.