§ 33. Einleitung. - Die transzendentale Ästhetik
(Begründung der Mathematik).


Quellen. Das Hauptwerk bildet natürlich die Kritik der reinen Vernunft m der ersten und der zweiten, vielfach veränderten Auflage. Über die Geschichte und den Unterschied beider vgl. B. Erdmann, Kants Kritizismus in der 1. und 2. Auflage der Kr. d. r. V. (1878), auch die kurz zusammenfassende Darstellung in der Einleitung zu meiner Ausgabe, namentlich den 3. Abschnitt. Hier genüge die Bemerkung, dass die zweite Auflage (vgl. besonders die neue Vorrede) den Wissenschaftscharakter des Kritizismus deutlicher zum Ausdruck bringt, indem sie das methodische Verhältnis zu den exakten Wissenschaften wie überhaupt die erkenntniskritische Methode schärfer durchführt. In der Hauptsache bleiben Kern und Aufbau des Systems unverändert. Einen Vorläufer der zweiten Auflage bilden die zur Einführung in den kritischen Idealismus besonders geeigneten Prolegomena (1783). Die »Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft« (1786) enthalten eine Anwendung der gewonnenen philosophischen Prinzipien auf die allgemeinen Bewegungsgesetze der Materie. Für die Begründung der organischen Naturwissenschaft endlich kommt außer dem 2. Teile der Kr. d. r. V. noch der 2. Teil der Kritik der Urteilskraft in Betracht.

Zur Literatur. Unter Hinweis auf unsere allgemeinen Bemerkungen zu Anfang des § 30 erwähnen wir hier nur die allerwichtigste Sonderliteratur zu diesem Kapitel. Populäre Einführungen geben: Z. Laßwitz, Die Lehre Kants von der Idealität des Raumes und der Zeit im Zusammenhange mit seiner Kritik des Erkennens, allgemeinverständlich dargestellt, Berlin 1883, und: F. Staudinger, Noumena, Darmstadt 1884. Für die transzendentale Logik empfiehlt sieh besonders: A. Stadler, Die Grundsätze der reinen Erkenntnistheorie in der Kantischen Philosophie. Kritische Darstellung. Lpz. 1876; für die Naturteleologie: A. Stadler, Kants Teleologie und ihre erkenntnistheoretische Bedeutung. Berlin 1874. (Der erste Abschnitt enthält eine klare und kurze Übersicht des Gedankenkerns der Kr. d. r. V.) E. König, Kant und die Naturwissenschaft 1907. Vgl. auch E. Cassirer, Erkenntnisproblem II, S. 509-617 (für Gereiftere). - Das Hauptwerk bleibt E. Cohen, Kants Theorie der Erfahrung. 2., neubearbeitete Auflage. Berlin 1885 (1. Auflage 1871) vgl. auch dess.: Das Prinzip der Infintesimalmethode und seine Geschichte, ein Kapitel zur Grundlegung der Erkenntniskritik 1883, und für die Ideenlehre Kap. 1-5 seines Buches: Kants Begründung der Ethik 1877 (2. A. 1910); dazu seinen schon S. 177 genannten kurzen Kommentar zur Kr. d. r. V. (1907). - Außerdem sind zu nennen: A. Riehl, Der philosophische Kritizismus und seine Bedeutung für die positive Wissenschaft, 1. Bd., Lpz. 1876, S. Aufl. 1908, und E. Laas, Kants Analogien der Erfahrung, Berlin 1876 (beides kritische Darstellungen, dem Positivismus zuneigend). - Eine kritische Zusammenfassung fast alles dessen, was über die Kritik der reinen Vernunft geschrieben worden ist, gibt B. Vaihingers weitläufig angelegter Kommentar zu Kants Kr. d. r. V., von dem bisher zwei starke, jedoch nur bis zum Schluß der transzendentalen Ästhetik reichende Bände, mit zahlreichen Exkursen über einzelne Fragen, erschienen sind (1881 und 1892). - Eine brauchbare Hilfe für den Anfänger bietet auch der Auszug des alten Mellin(1755-1825): Marginalien und Register zu Kants Kr. d. r. V. (1794), neu herausgegeben von L. Goldschmidt, Gotha 1900. Vgl. ferner E. Arnoldt, Erläuternde Abhandlungen zu Kants Kr. d. r. V., aus dem Nachlaß herausgegeben von O. Schöndörffer, Berlin 1907. Endlich verweise ich auch an dieser Stelle auf die Einleitung und das ausführliche erklärende Sachregister in meiner Ausgabe des Kantischen Werkes (O. Hendel, Halle).

Als die »klassische« Einteilung seiner Kritik bezeichnet Kant in den Prolegomenen (§ 3) die Einteilung der Urteile in analytische und synthetische. Analytische Urteile sind solche, deren Prädikat im Subjekt bereits enthalten ist (z.B. alle Körper sind ausgedehnt). Als »Erläuterungsurteile« sind sie nützlich und unentbehrlich, aber sie »bringen den Verstand nicht weiter«, sondern »dienen nur zur Kette der Methode« Ihr Wert ist ein bloß logischer, ihr oberster Grundsatz der Satz der Identität oder des Widerspruches (A = A, A nicht = non A). Die kritische Methode aber sucht nicht die formalen Bedingungen des Denkens (wie die Logik), sondern die des wissenschaftlichen Erkennens. Die synthetischen Urteile vielmehr, die den Subjektbegriff durch ein neues Prädikat erweitern, daher auch »Erweiterungsurteile« heißen, machen den Inhalt der Wissenschaft aus. Wenn darum Kant als die Aufgabe, »auf die alles ankommt«, die Lösung der Frage bezeichnet: Wie sind synthetische Sätze a priori möglich?, so brauchen wir nur die »schulgerechte« Sprache abzustreifen, und wir haben die von uns (§ 32, 3) bereits berührte Frage vor uns: Wie ist wissenschaftliche Erfahrung, wie ist Wissenschaft möglich?

Nun bedeutet Wissenschaft nach dem Sprachgebrauch der damaligen Zeit in erster Linie immer die mathematisch-naturwissenschaftliche Erkenntnis. Daher zerlegt sich die eben erhobene allgemeine Frage in die zwei Unterfragen: 1. Wie ist reine Mathematik möglich? 2. Wie ist reine (d.i. mathematische) Naturwissenschaft möglich? Aber neben der exakten Wissenschaft gibt es noch letzte Probleme und unentbehrliche Aufgaben der Menschenvernunft, die sich uns unwillkürlich aufdrängen und die man unter dem Namen der »metaphysischen« zusammenzufassen pflegt. So erhebt sich neben den beiden vorigen die 3. Frage: Wie ist diese, als »Naturanlage« wirkliche, aber so oft von den Philosophen vergeblich in Angriff genommene Metaphysik als Wissenschaft möglich?

Auf die erste dieser drei Fragen antwortet die »transzendentale Ästhetik«, auf die zweite die »transzendentale Analytik«, auf die dritte die »transzendentale Dialektik« Mit der ersten haben wir uns zunächst zu beschäftigen.



Inhalt:


Die transzendentale Ästhetik
A. Die Lehre vom Raume (Möglichkeit der Geometrie)
B. Die Lehre von der Zeit (Möglichkeit der Arithmetik und reinen Mechanik)


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