B. Die Lehre von der Zeit
(Möglichkeit der Arithmetik und reinen Mechanik).
Analog, wie mit dem Raume, verhält es sich mit der Zeit. Auch sie ist keine Abstraktion von der Erfahrung, sondern die Bedingung von deren Möglichkeit; auch sie kein allgemeiner Begriff, sondern reine Anschauung, eine unendliche und gegebene kontinuierliche Größe; auch sie eine unaufhebbare Vorstellung. Selbst die größten Zeiträume sind nur Abgrenzungen der einen unendlichen Zeit, wie anderseits der kürzeste Moment in der Zeit bleibt. Wie der Raum das Neben-, so macht sie das Nacheinander und das Zugleichsein möglich. Alle Veränderung überhaupt, und im besonderen die Ortsveränderung oder Bewegung, beruht auf der Zeit in Verbindung mit der Raumvorstellung. So bringt - das ist die transzendentale Bedeutung der Zeit - die Arithmetik ihre Zahlbegriffe nur »durch sukzessive Zusammensetzung ihrer Einheiten in der Zeit«, namentlich aber die allgemeine Mechanik ihre Bewegungsgesetze nur durch die Zeitvorstellung zustande.
Auch die Zeit ist ebensowenig, wie der Raum, eine Eigenschaft von Dingen an sich selbst, sondern »nur« eine »Form der sinnlichen Anschauung«; und zwar, im Unterschiede vom Raum, die Form des »inneren Sinnes«, d.h. des »Anschauens unserer selbst und unseres inneren Zustandes«. Als solche ist sie umfassender als die Raumvorstellung und dieser nicht neben-, sondern übergeordnet. Denn der Raum war nur die formale Bedingung äußerer Erscheinungen; die Zeit ist die Form aller Erscheinungen überhaupt: unmittelbar der inneren, mittelbar auch der äußeren. Wie der Raum, so besitzt auch die Zeit transzendentale Idealität: sie ist nur in unserer Vorstellung, - und empirische Realität: alle Gegenstände stehen im Zeitverhältnisse zueinander, sind »in« der Zeit; darin besteht ihre ganze »Wirklichkeit«.
* * *
Die Sinnlichkeit ist somit durchaus nicht, wie die Leibniz-Wolffsche Philosophie meinte, eine »verworrene« Vorstellungsart der Dinge, sondern ein notwendiger Bestandteil der »Erfahrung«. Ohne sie wäre weder die unbedingte Geltung der geometrischen Sätze noch die Sicherheit der mathematischen Bewegungsgesetze möglich. Der »Raum in Gedanken« ist die Vorbedingung des »physischen« Raumes, d. h, der Ausdehnung der Materie. Nur dadurch, dass Raum und Zeit die formalen Bedingungen der Erfahrung sind, vermögen wir die mathematisch begründete Mechanik auf die gegebene Erfahrungswelt anzuwenden, ohne auf einen inneren Widerspruch zu stoßen. Die gesamte Erfahrungswelt steht unter räumlich -zeitlichen Gesetzen, welche einerseits nur in unserer Vorstellung existieren - mit der dualistischen Ansicht, als ob die »Vorstellung« dem »Objekte« bloß »völlig ähnlich« sei, erklärt Kant »keinen Sinn verbinden zu können« -, anderseits aber bloß auf Gegenstände der Sinne, »Objekte möglicher Erfahrung« gehen, für diese jedoch kein Schein, sondern »notwendige Bedingung«, also »wirklich« sind.