A. Die Lehre vom Raum
(Möglichkeit der Geometrie).
1. Metaphysische Erörterung. Kant untersucht nicht (vgl. § 32, 2) das psychologische Problem der Entstehung der Raumanschauung, etwa in der Seele des Kindes, sondern er will dieselbe in seiner »metaphysischen Erörterung« als in der Organisation unseres Geistes begründet darlegen.
Der Raum ist nicht ein aus den Tatsachen äußerer Erfahrung abstrahierter Begriff, wie die englischen Empiristen meinten, sondern umgekehrt: durch ihn wird überhaupt erst äußere Erfahrung möglich. Man kann sich allenfalls die Gegenstände aus dem Raume, jedoch nie den Raum selbst wegdenken. Der Raum ist also eine notwendige Vorstellung a priori, eine Bedingung der Erfahrung. Er ist ferner kein Verstandesbegriff, sondern reine Anschauung. Er enthält, als gegebene unendliche Größe, die einzelnen »Räume« in sich, nicht, wie der Verstandesbegriff, unter sich.
Aber die eigentliche Absicht Kants geht auf die
2. Transzendentale Erörterung. Die Raumvorstellung ist nicht bloß eine notwendige Voraussetzung unserer Erfahrung im allgemeinen, sondern speziell auch die notwendige Voraussetzung der Geometrie. Und zwar der Raum als Anschauung, nicht als Begriff gefaßt. Denn die Mathematik muß alle ihre Begriffe in der Anschauung darstellen (konstruieren) können; ohne das haben sie keine objektive Gültigkeit. Auch ist das Bewußtsein apodiktischer Notwendigkeit, das mit aller Vorstellung geometrischer Sätze verbunden ist, nur möglich, wenn die Notwendigkeit nicht in den sogenannten Dingen, sondern in der formalen Beschaffenheit des Subjekts, d.h. in der Form des äußeren Sinnes liegt. Der Satz: die Raumanschauung geht aller Wahrnehmung äußerer Gegenstände voraus, bedeutet mithin: Ohne sie ist keine wissenschaftliche Bestimmung des Gegenstandes möglich.
3. Folgerungen. Der Raum stellt demnach keine Eigenschaft oder Bestimmung etwaiger »Dinge an sich« dar, die unabhängig von unserer Sinnlichkeit wären, sondern er ist nur »die Form aller Erscheinungen äußerer Sinne«; wobei Erscheinung nicht im Sinne des Scheins, sondern in. dem bereits oben berührten des »unbestimmten Gegenstandes« zu nehmen ist. Das berühmte, in der Kantliteratur so oft umstrittene »Ding an sich «, das an dieser Stelle zum erstenmal auftritt, ist also vorderhand nichts als ein Fragezeichen, eine »kritische Erinnerung« daran, dass Gegenstände an sich uns gar nicht erkennbar sind, »nach welchen aber auch in der Erfahrung niemals gefragt wird« Der Raum ist vielmehr nichts anderes als die subjektive und formale Bedingung, unter der allein uns äußere Anschauung möglich ist. Er ist als formale Bedingung an unsere Sinnlichkeit geknüpft; ob es andere Wesen mit einer anderen Anschauungsart und folglich auch einer anderen Geometrie gibt, geht uns nichts an. Er besitzt objektive Gültigkeit hinsichtlich aller möglichen äußeren Erfahrung (alle äußeren Erscheinungen sind nebeneinander im Räume), d.h. empirische Realität; dagegen nicht die geringste, »sobald wir die Bedingung der Möglichkeit aller Erfahrung weglassen«, d.h. transzendentale Idealität.
Endlich ist der Raum die einzige apriorisch-objektive Vorstellungsart äußerer Gegenstände, da Farben-, Ton- und Wärmeempfindungen eben Empfindungen unserer Sinne, aber keine Anschauungen sind.