II. Anwendung auf den empirischen Menschen
1. Unentbehrlichkeit einer angewandten Ethik. Ohne die Möglichkeit ihrer Anwendung hätte die reine Ethik keinen Sinn. Eine angewandte Ethik oder »moralische Anthropologie«, wie Kant gewöhnlich statt dessen sagt, kann »nicht entbehrt«, sie darf nur nicht vor jener vorausgeschickt oder mit ihr »vermischt« werden; aber sie gehört »zur Vollständigkeit der Darstellung des Systems« Ja, die Ethik hat sogar vor der »Transzendental-Philosophie« (der theoretischen Vernunft) den Vorteil, dass sie »ihre Grundsätze insgesamt auch in concreto, zusamt den praktischen Folgen, wenigstens in möglichen Erfahrungen geben kann« (Kr. 453). Schon methodisch liegt in dem Begriff des Sollens die Möglichkeit des Wirkens. »Die bloße Form eines Gesetzes, welches die Materie einschränkt, muß zugleich ein Grund sein, diese Materie zum Willen hinzuzufügen.« Der Mensch kann, was er soll, und wenn auch zwischen dem Naturbegriff und dem Freiheitsbegriff, der Welt des Sinnlichen und des Übersinnlichen »eine unübersehbare Kluft befestigt ist«, so »soll doch diese auf jene einen Einfluß haben, nämlich der Freiheitsbegriff soll den durch seine Gesetze aufgegebenen Zweck in der Sinnenwelt wirklich machen« Die Beziehung auf die psychologische Beschaffenheit, die seelisch-körperliche Organisation des Menschen mußte bei der Begründung der reinen Ethik abgelehnt werden, um ihr eine desto fruchtbarere Anwendung zu ermöglichen.
Schon die Tatsache, dass Kants eigene literarische Tätigkeit sich nicht auf die Begründung der reinen Ethik beschränkt, sondern sich, sogar mit Vorliebe, der angewandten Ethik zugewandt hat, sollte ihn vor dem Verdachte bewahren, als ob er die Unentbehrlichkeit der letzteren verkannt hätte. Ehe wir indes einen Blick auf die besonderen Anwendungen, d.h. seine Tugend- und Rechtslehre, seine Pädagogik, Geschichts- und Religionsphilosophie werfen (§ 41), haben wir noch einige allgemeine Begriffe seiner angewandten Ethik zu kennzeichnen.
2. Der kategorische Imperativ, das Gefühl der Achtung und der Begriff der Pflicht. a) Wir haben einen sehr bekannten Begriff der Kantischen Ethik bisher noch gar nicht erwähnt: den kategorischen Imperativ. Das Sittengesetz kleidet sich in die Befehlsform (»Handle usw.«), weil es sich an den empirischen. Menschen mit allen seinen, zum Teil widerstrebenden, Gefühlen und Neigungen wendet. »Imperative sind Formeln, das Verhältnis objektiver Gesetze des Wollens überhaupt zu der subjektiven Unvollkommenheit des Willens dieses oder jenes vernünftigen Wesens, z.B. des menschlichen Willens, auszudrücken.« Sie gehören daher in das Gebiet der angewandten Ethik und werden deshalb in der Grundlegung ausführlich, in der Kr. d. pr. V. nur beiläufig behandelt. Von den hypothetischen oder bedingten Imperativen, die nur »Vorschriften der Klugheit (Geschicklichkeit)« zur Erreichung bestimmter Zwecke, z.B. der eigenen Glückseligkeit, sind, unterscheidet sich der kategorische dadurch, dass er unmittelbar gebietet, weil er auf den unbedingten Zweck des formalen Sittengesetzes geht.
b) Alles Wollen des Menschen ist mit einem Gefühle, sei es der Lust oder der Unlust, verbunden. Indem sich nun das Sittengesetz vermittelst des kategorischen Imperativs an den Erfahrungsmenschen wendet, entsteht in diesem das merkwürdige, aus Lust und Unlust gemischte Doppelgefühl der Achtung. Der sinnliche Mensch in uns, das »pathologisch affizierte« Subjekt fühlt sich gedemütigt im Bewußtsein seiner Unangemessenheit zur Idee: das Gefühl seines Unterworfenseins unter die Strenge des Gesetzes führt ein Gefühl des Zwanges, mithin der Unlust mit sich. Der moralische Mensch in uns dagegen, unser »besseres Selbst« fühlt sich erhoben, ja hingerissen in dem Bewußtsein, dass er selbst der Schöpfer dieses Gesetzes ist (s. oben I, 2), dass er nur der Gesetzgebung seiner eigenen Vernunft gehorcht; die Unterwerfung wird nun eine »freie«, der Zwang zum »freien Selbstzwang«. Hat man bloß seinen Eigendünkel (nicht die wahre, »vernünftige Selbstliebe«) abgelegt, so kann man sich an der Herrlichkeit des Sittengesetzes »nicht satt sehen«, und die Seele »glaubt sich in dem Maße selbst zu erheben, als sie das heilige Gesetz über sich und ihre gebrechliche Natur erhaben sieht«. Wir fühlen die Erhabenheit unserer Bestimmung in dem Gefühle jenes unerklärbaren Etwas in uns, »das sich getrauen darf, mit allen Kräften der Natur in dir und um dich in Kampf zu treten und sie, wenn sie mit deinen sittlichen Grundsätzen in Streit kommen, zu besiegen« Achtung ist, weil sie vom Sittengesetze notwendig und unmittelbar bewirkt wird, das einzige Gefühl, das wir a priori erkennen können; sie ist das wahre »moralische Gefühl«. Der Umstand, dass wir keinem anderen Gesetze gehorchen als dem, das wir uns (als Vernunftwesen) selbst geben, verleiht uns einen inneren Wert, der unbedingt und über allen »Marktpreis« hoch erhaben ist, d.h. Würde.
c) Indem nun das Sittengesetz vermittelst des Gefühls der Achtung zur »Triebfeder« unserer Handlungen wird, entsteht in uns das Bewußtsein der Pflicht. Es ist methodisch bezeichnend, dass Kant, während er in der von der populären sittlichen Weltweisheit ausgehenden Grundlegung (1785) das Sittengesetz noch von der Pflicht ableitet, bereits in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (1787) den Pflichtbegriff von dem »System der reinen Sittlichkeit« ausschließt (ebd. S. 29); in der Kritik der praktischen Vernunft erscheint er dann ganz deutlich als Grundbegriff der angewandten Ethik. Bekannt ist die Strenge, mit welcher Kant diesen seinen Pflichtbegriff aller Neigungsmoral entgegensetzt. »Es ist sehr schön, aus Liebe zu Menschen und teilnehmendem Wohlwollen ihnen Gutes zu tun«, aber das ist noch nicht »die echte moralische Maxime unseres Verhaltens... Pflicht und Schuldigkeit sind die Benennungen, die wir allein unserem Verhältnis zum moralischen Gesetze geben müssen«. »Die Ehrwürdigkeit der Pflicht hat nichts mit Lebensgenuß zu schaffen; sie hat ihr eigentümliches Gesetz... und wenn man beide auch noch so sehr zusammenschütteln wollte, um sie vermischt, gleichsam als Arzneimittel, der kranken Seele zuzureichen, so scheiden sie sich doch alsbald von selbst.« Solche Stellen, deren noch viele angeführt werden könnten, haben Kant vielfach den Vorwurf des »Rigorismus« zugezogen; ungerechtfertigterweise, soweit er sich auf Kants sittliche Gesamtanschauung bezieht.
Methodisch aber ist diese Strenge vollständig gerechtfertigt; denn die formale Ethik muß auch in ihrer Anwendung frei gehalten werden von allem Eudämonismus. »Um ihn ganz rein zu haben, muß der Mensch sein Verlangen nach Glückseligkeit völlig vom Pflichtbegriffe absondern.« Mag er auch »vielleicht nie seine erkannte und von ihm auch verehrte Pflicht ganz uneigennützig (ohne Beimischung anderer Triebfedern) ausgeübt haben; vielleicht wird auch nie einer bei der größten Bestrebung so weit gelangen. Aber... zu jener Reinigkeit hinzustreben... das vermag er: und das ist auch für seine Pflichtbeobachtung genug«. Dass dieser im Interesse der Methode notwendige »Rigorismus« oder »Formalismus« bei Kant keine »karthäuserartige Gemütsstimmung« zur Folge hatte, geht nicht bloß aus seiner ganzen sittlich-heiteren Persönlichkeit, sondern auch aus zahlreichen Stellen seiner Schriften, deren einige wir bereits oben (zu I, 2) angeführt, während wir andere an anderem Orte gesammelt haben,*) mit voller Klarheit hervor. So auch aus der berühmten Apostrophe an die Pflicht (pr. V. 105), mit deren erstem Teil wir diesen Abschnitt beschließen wollen: »Pflicht! Du erhabener, großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst, doch auch nichts drohest, was natürliche Abneigung im Gemüte erregte und schreckte, um den Willen zu bewegen, sondern bloß ein Gesetz aufstellst, welches von selbst im Gemüte Eingang findet.«
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*) K. Vorländer, Kant - Schiller - Goethe. Leipzig 1907. Hier ist die ganze Frage im Zusammenhang behandelt und zugleich die wesentliche Übereinstimmung Kants mit Schiller gezeigt.