§ 12. Naturalrechnung
1. Die Probleme der Naturalrechnung sind anläßlich der »Sozialisierungs«-Tendenzen in letzter Zeit, besonders eindringlich von Otto Neurath in seinen zahlreichen Arbeiten, angeregt worden. Für eine »Vollsozialisierung«, d.h. eine solche, welche mit dem Verschwinden effektiver Preise rechnet, ist das Problem in der Tat durchaus zentral. (Seine rationale Unlösbarkeit würde, wie ausdrücklich bemerkt sei, nur besagen: was alles, auch rein ökonomisch, bei einer derartigen Sozialisierung »in den Kauf zu nehmen« wäre, nie aber die »Berechtigung« dieses Bestrebens, sofern es sich eben nicht auf technische, sondern, wie aller Gesinnungs- Sozialismus, auf ethische oder andre absolute Postulate stützt, »widerlegen« können: – was keine Wissenschaft vermag. Rein technisch angesehen, wäre aber die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, daß auf Gebieten mit nur auf der Basis exakter Rechnung zu unterhaltender Volksdichte die Grenze der möglichen Sozialisierung nach Form und Umfang durch den Fortbestand effektiver Preise gegeben wäre. Doch gehört das nicht hierher. Nur sei bemerkt: daß die begriffliche Scheidung von »Sozialismus« und »Sozialreform«, wenn irgendwo, dann gerade hier liegt.)
2. Es ist natürlich vollkommen zutreffend, daß »bloße « Geldrechnungen, sei es von Einzelbetrieben, sei es noch so vieler oder selbst aller Einzelbetriebe, und daß auch die umfassendste Güterbewegungsstatistik usw. in Geld noch gar nichts über die Art der Versorgung einer gegebenen Menschengruppe mit dem, was sie letztlich benötigt: Naturalgütern, aussagen, daß ferner die vielberedeten »Volksvermögens«-Schätzungen in Geld nur soweit ernst zu nehmen sind, als sie fiskalischen Zwecken dienen (und also: nur das steuerbare Vermögen feststellen). Für Einkommensstatistiken in Geld gilt jedoch das gleiche, auch vom Standpunkt der naturalen Güterversorgung, schon bei weitem nicht in gleichem Maße, wenn die Güterpreise in Geld statistisch bekannt sind. Nur fehlt auch dann jegliche Möglichkeit einer Kontrolle unter materialen Rationalitätsgesichtspunkten. Richtig ist ferner (und an dem Beispiel der römischen Campagna von Sismondi und W. Sombart vortrefflich dargelegt:), daß befriedigende Rentabilität (wie sie die höchst extensive Campagna- Wirtschaft zeigte, und zwar für alle Beteiligten) in zahlreichen Fällen nicht das mindeste mit einer, vom Standpunkt optimaler Nutzung gegebener Güterbeschaffungsmittel für einen Güterbedarf einer gegebenen Menschengruppe befriedigenden Gestaltung der Wirtschaft gemein hat; die Art der Appropriation (insbesondre – wie, insoweit, F. Oppenheimer schlechthin zuzugeben ist: – der Bodenappropriation, aber freilich: nicht nur dieser) stiftet Renten- und Verdienstchancen mannigfacher Art, welche die Entwicklung zur technisch optimalen Verwertung von Produktionsmitteln dauernd obstruieren können. (Allerdings ist dies sehr weit davon entfernt, eine Eigentümlichkeit gerade der kapitalistischen Wirtschaft zu sein: – insbesondre die vielberedeten Produktionseinschränkungen im Interesse der Rentabilität beherrschten gerade die Wirtschaftsverfassung des Mittelalters restlos, und die Machtstellung der Arbeiterschaft in der Gegenwart kann Ähnliches zeitigen. Aber unstreitig existiert der Tatbestand auch in ihrer Mitte.) – Die Tatsache der Statistik von Geldbewegungen oder in Form von Geldschätzungen hat aber doch die Entwicklung einer Naturalstatistik nicht etwa, wie man nach manchen Ausführungen glauben sollte, gehindert, man mag nun von idealen Postulaten aus deren Zustand und Leistungen im übrigen tadeln wie immer. Neun Zehntel und mehr unserer Statistik sind nicht Geld-, sondern Naturalstatistik. Im ganzen hat die Arbeit einer vollen Generation letztlich fast nichts anderes getan, als eine Kritik der Leistungen der reinen Rentabilitäts-Orientiertheit der Wirtschaft für die naturale Güterversorgung (denn darauf lief alle und jede Arbeit der sog. »Kathedersozialisten« doch letztlich, und zwar ganz bewußt, hinaus): nur hat sie allerdings als Beurteilungsmaßstab eine sozial politisch – und das heißt im Gegensatz gegen die Naturalrechnungswirtschaft: eine an fortbestehenden effektiven Preisen – orientierte Sozialreform, nicht eine Vollsozialisierung, für das (sei es derzeit, sei es definitiv) in Massenwirtschaften allein mögliche angesehen. Diesen Standpunkt für eine »Halbheit« zu halten, steht natürlich frei; nur war er an sich nicht in sich widersinnig. Daß den Problemen der Naturalwirtschaft und insbesondere der möglichen Rationalisierung der Naturalrechnung nicht sehr viel Aufmerksamkeit, jedenfalls im ganzen nur historische, nicht aktuelle, Beachtung geschenkt worden ist, trifft zu. Der Krieg hat – wie auch in der Vergangenheit jeder Krieg – diese Probleme in Form der Kriegs- und Nachkriegs-Wirtschaftsprobleme mit gewaltiger Wucht aufgerollt. (Und unzweifelhaft gehört zu den Verdiensten Otto Neuraths eine besonders frühe und eindringliche, im einzelnen sowohl wie im Prinzipiellen gewiß bestreitbare, Behandlung eben dieser Probleme. Daß »die Wissenschaft« zu seinen Formulierungen wenig Stellung genommen habe, ist insofern nicht erstaunlich, als bisher nur höchst anregende, aber doch mehr Kapitelüberschrift-artige Prognosen vorliegen, mit denen eine eigentliche »Auseinandersetzung« schwer ist. Das Problem beginnt da, wo seine öffentlichen Darlegungen – bisher – enden).
3. Die Leistungen und Methoden der Kriegswirtschaft können nur mit großer Vorsicht für die Kritik auch der materialen Rationalität einer Wirtschaftsverfassung verwendet werden. Kriegswirtschaft ist an einem (im Prinzip) eindeutigen Zwecke orientiert und in der Lage, Machtvollkommenheiten auszunutzen, wie sie der Friedenswirtschaft nur bei »Staatssklaverei« der »Untertanen« zur Verfügung stehen. Sie ist ferner »Bankerotteurswirtschaft« ihrem innersten Wesen nach: der überragende Zweck läßt fast jede Rücksicht auf die kommende Friedenswirtschaft schwinden. Es wird nur technisch präzis, ökonomisch aber, bei allen nicht mit völligem Versiegen bedrohten Materialien und vollends mit den Arbeitskräften, nur im groben gerechnet. Die Rechnungen haben daher vorwiegend (nicht: ausschließlich) technischen Charakter; soweit sie wirtschaftlichen Charakter haben, d.h. die Konkurrenz von Zwecken – nicht nur: von Mitteln zum gegebenen Zweck – berücksichtigen, begnügen sie sich mit (vom Standpunkt jeder genauen Geldkalkulation aus gesehen) ziemlich primitiven Erwägungen und Berechnungen nach dem Grenznutzprinzip, sind dem Typus nach »Haushalts«-Rechnungen und haben gar nicht den Sinn, dauernde Rationalität der gewählten Aufteilung von Arbeit und Beschaffungsmitteln zu garantieren. Es ist daher, – so belehrend gerade die Kriegswirtschaft und Nachkriegswirtschaft für die Erkenntnis ökonomischer »Möglichkeiten« ist, – bedenklich, aus den ihr gemäßen naturalen Rechnungsformen Rückschlüsse auf deren Eignung für die Nachhaltigkeits- Wirtschaft des Friedens zu ziehen.
Es ist auf das bereitwilligste zuzugestehen: 1. daß auch die Geldrechnung zu willkürlichen Annahmen genötigt ist bei solchen Beschaffungsmitteln, welche keinen Marktpreis haben (was besonders in der landwirtschaftlichen Buchführung in Betracht kommt), – 2. daß in abgemindertem Maß etwas Ähnliches für die Aufteilung der »Generalunkosten« bei der Kalkulation insbesondere von vielseitigen Betrieben gilt, – 3. daß jede, auch noch so rationale, d.h. an Marktchancen orientierte, Kartellierung sofort den Anreiz zur exakten Kalkulation schon auf dem Boden der Kapitalrechnung herabsetzt, weil nur da und soweit genau kalkuliert wird, wo und als eine Nötigung dafür vorhanden ist. Bei der Naturalrechnung würde aber der Zustand zu 1 universell bestehen, zu 2 jede exakte Berechnung der »Generalunkosten«, welche immerhin von der Kapitalrechnung geleistet wird, unmöglich und, – zu 3 jeder Antrieb zu exakter Kalkulation ausgeschaltet und durch Mittel von fraglicher Wirkung (s. o.) künstlich neu geschaffen werden müssen. Der Gedanke einer Verwandlung des umfangreichen, mit Kalkulation befaßten Stabes »kaufmännischer Angestellter« in ein Personal einer Universalstatistik, von der geglaubt wird, daß sie die Kalkulation bei Naturalrechnung ersetzen könne, verkennt nicht nur die grundverschiedenen Antriebe, sondern auch die grundverschiedene Funktion von »Statistik« und »Kalkulation«. Sie unterscheiden sich wie Bureaukrat und Organisator.
4. Sowohl die Naturalrechnung wie die Geldrechnung sind rationale Techniken. Sie teilen keineswegs die Gesamtheit alles Wirtschaftens unter sich auf. Vielmehr steht daneben das zwar tatsächlich wirtschaftlich orientierte, aber rechnungsfremde Handeln. Es kann traditional orientiert oder affektuell bedingt sein. Alle primitive Nahrungssuche der Menschen ist der instinktbeherrschten tierischen Nahrungssuche verwandt. Auch das voll bewußte, aber auf religiöser Hingabe, kriegerischer Erregung, Pietätsempfindungen und ähnlichen affektuellen Orientierungen ruhende Handeln ist in seinem Rechenhaftigkeitsgrad sehr wenig entwickelt. »Unter Brüdern« (Stammes-, Gilde-, Glaubens-Brüdern) wird nicht gefeilscht, im Familien-, Kameraden-, Jüngerkreise nicht gerechnet oder doch nur sehr elastisch, im Fall der Not, »rationiert«: ein bescheidener Ansatz von Rechenhaftigkeit. Über das Eindringen der Rechenhaftigkeit in den urwüchsigen Familienkommunismus s. unten Kap. V. Träger des Rechnens war überall das Geld, und dies erklärt es, daß in der Tat die Naturalrechnung technisch noch unentwickelter geblieben ist, als ihre immanente Natur dies erzwingt (insoweit dürfte O. Neurath Recht zu geben sein).
Während des Druckes erscheint (im Archiv f. Sozialwiss., Bd. 47, S. 86 ff.) die mit diesen Problemen befaßte Arbeit von L. Mises [»Die Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen«; zu vgl. neuerdings in dess. Verf. »Die Gemeinwirtschaft«, 2. Aufl. 1932, S. 91 ff. (II. Teil, § 3) nebst Anhang (S. 480 ff.)].