[Das allegorische Zwischenspiel]
Die wachsende Bedeutung des Zwischenspiels, das schon in der mittleren Periode des Gryphius vor der dramatischen Katastrophe die Stelle des Chores einnimmt,1 fällt mit der zunehmenden Aufdringlichkeit seiner allegorischen Prachtentfaltung zusammen. Sie erreicht bei Hallmann den Höhepunkt. »Wie das Ornamentale der Rede das Konstruktive, den logischen Sinn überwuchert ... und sich zu Katachresen verzerrt, so ... verdeckt das aus dem Redestil geborgte Omamentale als inszeniertes Exemplum, inszenierte Antithese und inszenierte Metapher die Struktur des ganzen Dramas.«2 Sinnfällig geben diese Zwischenspiele den Ertrag aus den Prämissen allegorischer Betrachtung, um welche das Vorangeschickte sich bemühte. Ob nach dem Beispiel des jesuitischen Schuldramas ein allegorisch, »spiritualiter« zutreffendes Exemplum aus der antiken Geschichte abgehandelt wird — Hallmann: der Dido-Reyen aus »Adonis und Rosibella«, der Callisto-Reyen aus »Catharina«3 —, ob die Chöre, wie Lohenstein es bevorzugt, eine erbauliche Psychologie der Leidenschaften entwickeln, oder, wie bei Gryphius, die religiöse Reflexion in ihnen vorwaltet — mehr oder minder ist in allen diesen Typen der dramatische Vorfall nicht als einmaliger, vielmehr als die naturnotwendige, im Weltlauf angelegte Katastrophe aufgefaßt. Aber selbst die allegorische Nutzanwendung ist nicht Zuspitzung des dramatischen Verlaufs, sondern breites, exegetisches Zwischenspiel. Nicht einer aus dem andern schießen die Akte empor, sie staffeln sich vielmehr terrassenartig. In breiten Ebnen simultaner Umschau ist das dramatische Gefüge abgesetzt, wobei der Stufenbau des Zwischenspiels zum Standort einer ausladenden Statuarik wurde. »Es geht mit der Erwähnung des Exemplums in der Rede seine szenische Darstellung als lebendes Bild parallel (Adonis); es stehen solche Exempla sogar bis auf drei, vier und sieben gehäuft nebeneinander auf der Bühne (Adonis). Dieselbe szenische Umsetzung hat auch die rhetorische Apostrophe: Schau, wie ... in den prophetischen Geisterreden erfahren.«4 Mit aller Macht holt in der ›stillen Vorstellung‹ der Wille zur Allegorie das verklingende Wort in den Raum zurück, um es der phantasielosen Anschauung zugänglich zu machen. Der, sozusagen, atmosphärische Ausgleich zwischen dem Raum einer visionären Wahrnehmung der dramatischen Person und der profanen des Zuschauers — ein theatralisches Wagnis, das selbst Shakespeare kaum je unternimmt — läßt, je weniger es diesen geringern Meistern gelungen ist desto deutlicher, seine Tendenz hervortreten. Die visionäre Beschreibung des lebenden Bildes ist ein Triumph barocker Drastik und barocker Antithetik — »Handlung und Reyen sind zwei getrennte Welten, sie unterscheiden sich wie Traum und Wirklichkeit«5. »So ist die dramatische Technik des Andreas Gryphius, daß in Handlung und Reyen die reale Welt der Dinge und Geschehnisse sehr scharf getrennt ist von einer idealen Welt der Bedeutungen und Ursachen.«6 Ist es erlaubt, dieser beiden Aussagen als zweier Prämissen sich zu bedienen, so ist der Schluß nicht weit, daß die im Reyen vernehmbar sich machende Welt die der Träume und Bedeutungen sei. Erfahrung von der Einheit dieser beiden ist eigenster Besitz des Melancholikers. Doch auch die radikale Trennung von Handlung und von Zwischenspiel besteht nicht vor den Augen seines erwählten Beschauers. Hier und da tritt im dramatischen Vorgang selber die Verbindung zutage. So wenn im Reyen Agrippina von Seejungfrauen sich gerettet findet. Nirgends bezeichnenderweise schöner und eindringlicher, als durch die Person eines Schlafenden, wie das Intermezzo nach dem IV. Akt des »Papinian« in dem Kaiser Bassian ihn vorstellt. Während seines Schlummers führt ein Reyen sein bedeutendes Spiel auf. »Der Käyser erwachet und gehet traurig ab.«7 »Wie sich übrigens der Dichter, dem Gespenster Realitäten waren, die Verbindung dieser mit Allegorien vorgestellt hat, bleibt eine müßige Frage«8 bemerkt Steinberg mit Unrecht. Gespenster wie die tief bedeutenden Allegorien sind Erscheinungen aus dem Reiche der Trauer; durch den Trauernden, den Grübler über Zeichen und Zukunft, werden sie angezogen. Nicht gleich klar liegen die Zusammenhänge für das eigentümliche Auftreten der Geister von Lebenden. »Die Seele der Sophonisbe« tritt in dem ersten Reyen jenes Lohensteinschen Trauerspiels ihren Leidenschaften gegenüber,9 während im Hallmannschen Szenar zur »Liberata«10 und in »Adonis und Rosibella«11 es nur um die Verkleidung ins Gespenst sich handelt. Wenn Gryphius einen Geist in der Gestalt Olympiens kommen läßt,12 so ist das eine neue Wendung des Motivs. Das alles bedeutet natürlich nicht reinen »Unsinn«13, wie Kerckhoffs bemerkt, gibt vielmehr ein absonderliches Zeugnis von dem Fanatismus, der auch das schlechthin Singulare, die Person, im Allegorischen vervielfältigt. Um eine noch weit mehr bizarre Allegorisierung handelt es sich vielleicht in einer Vorschrift, die sich in der ›Sophia‹ Hallmanns findet: wenn nämlich, wie man fast vermuten muß, es nicht zwei Tote, vielmehr Erscheinungen des Todes sind, die als »zwey Todte mit Pfeilen ... ein höchst trauriges Ballet nebst untergemischten grausamen Geberden gegen die Sophie tantzen«14. Dergleichen ist gewissen emblematischen Darstellungen verwandt. Die »Emblemata selectiora« etwa haben eine Tafel,15 die eine Rose gleichzeitig halb blühend, halb verwelkt, die Sonne in der gleichen Landschaft auf- und untergehend zeigt. »Das Wesen des Barock ist die Gleichzeitigkeit seiner Handlungen«16 heißt es ziemlich grobschlächtig, doch in einer Ahnung des Sachverhaltes bei Hausenstein. Denn fürs Vergegenwärtigen der Zeit im Raume — und was ist deren Säkularisierung anderes, als in die strikte Gegenwart sie wandeln? — ist Simultaneisierung des Geschehens das gründlichste Verfahren. — Die Zweiheit von Bedeutung und von Wirklichkeit hat in der Einrichtung der Bühne sich gespiegelt. Der Zwischenvorhang ließ ein Spiel auf der Vorderbühne mit Szenen, welche in die ganze Tiefe sich erstreckten, wechseln. Und »der Prunk, den man zu entfalten nicht zögerte, konnte ... nur auf der Hinterbühne recht vorgeführt werden«17. Da nun die Auflösung der Situation nicht tunlich ohne die Apotheose des Schlusses war, so konnten sich die Verwicklungen im beschränkten Räume der Vorderbühne nur schürzen, die Lösung fand in der allegorischen Fülle statt. Die gleiche Teilung geht durch die tektonische Struktur des Ganzen. Es wurde angedeutet, daß ein klassizistisches Gerüst zum Ausdrucksstil in diesen Dramen kontrastierend steht. Auf ein entsprechendes Faktum stieß Hausenstein und behauptet, das Mathematische bestimme die Gestaltung des Außenbaus bei Schloß und Haus, bis zu einem gewissen Grade selbst bei der Kirche, der Innenstil sei das Feld der wuchernden Einbildungskraft.18 Wenn anders Überraschung, ja Verschlingung im Aufbau dieser Dramen für etwas steht und gegen eine klassizistische Durchsichtigkeit des Handlungslaufes zu betonen ist, so ist der Exotismus in der Stoffwahl ihm nicht fremd. Das Trauerspiel veranlaßt zur Erfindung der dichterischen Fabel nachdrücklicher als die Tragödie. Und wurde hier aufs bürgerliche Trauerspiel verwiesen, so könnte man in diesem Sinne weit gehen und an den ersten Titel über Klingers »Sturm und Drang« erinnern wollen. »Der Wirrwarr« hatte der Dichter dies Drama genannt. Verwicklung sucht schon das barocke Trauerspiel mit seinen Wechselfällen und Intrigen. Greifbar deutlich ist gerade hier, wie genau die Allegorie es betrifft. In einer komplizierten Konfiguration setzt sich der Sinn von seiner Handlung wie Lettern im Monogramm durch. Birken nennt eine Art der Singspiele ein Ballett, »damit andeutend, daß die Stellung und Anordnung der Figuren, und die Pracht des äußern Aufzuges dabei das Wesentlichste ist. Ein solches Ballett ist weiter Nichts als ein allegorisches Gemälde mit lebenden Figuren ausgeführt, und in seinen Scenen wechselnd. Das Gesprochene will Nichts weniger als ein Dialog sein; es ist nur eine Erklärung der Bilder, von ihnen selbst hergesagt.«19
- Cf. Hans Steinberg: Die Reyen in den Trauerspielen des Andreas Gryphius. Diss., Göttingen 1914. S. 107.↩
- Kolitz l.c. [S. 93]. S. 182.↩
- Cf. l.c. S. 102 u. S. 168.↩
- L.c. S. 168.↩
- Steinberg l.c. [S. 214]. S. 76.↩
- Hübscher l.c. [S. 40 f.]. S. 557.↩
- Gryphius l.c [S. 53]. S. 599 (Ämilius Paulus Papinianus IV, Szenenanm.).↩
- Steinberg l.c. [S. 214]. S. 76.↩
- Cf. Lohenstein: Afrikanische Trauerspiele l.c. [S. 63]. S. 275 ff. (Sophonisbe 1, 513 ff.).↩
- Cf. Kolitz l.c. [S. 93]. S. 133.↩
- Cf. l.c. S.111.↩
- Cf. Gryphius l.c. [S. 53]. S. 310 ff. (Cardenio und Celinde IV, 1 ff.).↩
- Au[gust] Kerckhoffs: Daniel Casper von Lohenstein's Trauerspiele mit besonderer Berücksichtigung der Cleopatra. Ein Beitrag zur Geschichte des Dramas im XVII. Jahrhundert. Paderborn 1877. S. 52.↩
- Hallmann: Trauer-, Freuden- und Schäferspiele l.c. [S. 58]. ›Die himmlische Liebe oder die beständige Märterin Sophia‹ S. 69 (Szenenanm.).↩
- Cf. Emblemata selectiora. Typis elegantissimis expressa, nec non sententiis, carminibus, historiis ac proverbiis, ex scriptoribus cum sacris tum profanis, antiquis & recentioribus, illustrata. Amstelaedami 1704. Tab. 15.↩
- Hausenstein l.c. [S. 44]. S. 9.↩
- Flemming: Andreas Gryphius und die Bühne l.c. [S. 61]. S. 131.↩
- Cf. Hausenstein l.c. [S. 44]. S. 71.↩
- Tittmann l.c. [S. 89]. S. 184.↩