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[Der Alexandriner]

Die Ableitung des Alexandriners als Versform des barocken Trauerspiels aus jener strengen Unterschiedenheit der beiden Hälften, die oft zur Antithetik führt, reicht nicht ganz hin. Nicht weniger charakteristisch ist, wie mit der logischen — und wenn man will: der klassizistischen — Gestaltung der Fassade die phonetische Wildheit im Innern kontrastiert. Ist doch, mit Omeis zu reden, der »tragische Stilus ... mit prächtigen, langtönenden Wörtern angefüllet«1. Wenn man im Angesicht der kolossalen Proportion barocker Baukunst und barocker Malerei die »Raumerfüllung vortäuschende Eigenschaft«2 von beiden hervorheben konnte, so hat die im Alexandriner malerisch ausladende Sprache des Trauerspiels die gleiche Aufgabe. Die Sentenz muß — so stationär auch die von ihr getroffene Handlung im Moment verharrt — Bewegung wenigstens vortäuschen; darin lag eine technische Notwendigkeit des Pathos. Deutlich wird die Gewalt, die noch Sentenzen, weil überhaupt dem Verse, eignet, von Harsdörffer anschaulich gemacht. »Warum solche Spiele meistentheils in gebundner Rede geschrieben werden? Antwort: weil die Gemüter eifferigst sollen bewegt werden/ ist zu den Trauer- und Hirtenspielen das Reimgebäud bräuchlich/ welches gleich einer Trompeten die Wort/ und Stimme einzwenget/ daß sie so viel grössern Nachdruk haben.«3 Und da die an dem Bilderfundus oftmals unfrei haftende Sentenz das Denken gern in ausgefahrne Gleise schiebt, wird Lautliches um so beachtenswerter. Unvermeidlich war, daß die stilkritische Behandlung auch des Alexandriners dem allgemeinen Irrtum der älteren Philologie verfiel, die antiken Anregungen oder auch Vorwände der Formgebung als die Indizien ihres Wesens hinzunehmen. Typisch ist folgende in ihrem ersten Teile sehr zutreffende Anmerkung aus Richters Untersuchung »Liebeskampf 1630 und Schaubühne 1670«: »Der besondere Kunstwert der großen Dramatiker des 17. Jahrhunderts hängt mit der schöpferischen Ausprägung ihres Wortstiles aufs engste zusammen. Viel mehr als die Charakteristik oder gar die Komposition ... behauptet die hohe Tragödie des 17. Jahrhunderts ihre einzige Stellung durch das, was sie mit den rhetorischen Kunstmitteln, die in letzter Linie immer auf die Antike zurückgehen, leistet. Aber die bilderschwere Gedrungenheit und der festgefügte Bau der Perioden und Stilfiguren widerstrebten nicht nur dem Gedächtnis der Schauspieler, sondern sie wurzelten doch in dieser völlig heterogenen Formwelt der Antike so sehr, daß der Abstand von der Volkssprache ein unendlich großer war ... Es ist bedauerlich, daß man ... keinerlei Dokumente darüber besitzt, wie sich der Durchschnittsmensch mit ihr abfand.«4 Wäre selbst die Sprache dieser Dramen ausschließlich Gelehrtenangelegenheit gewesen, so hätten Ungeschulte immer an den Schaustücken ihre Freude gehabt. Aber der Schwulst entsprach den Ausdrucksimpulsen der Zeit, und diese Impulse pflegen ungleich stärker zu sein, als der verstandesmäßige Anteil an einer bis in die Einzelheiten transparenten Fabel. Die Jesuiten, die sich meisterhaft auf das Publikum verstanden, haben bei ihren Aufführungen kaum ein ausschließlich lateinkundiges Auditorium gehabt.5 Sie durften der alten Wahrheit sich überzeugt halten, daß die Autorität einer Äußerung so wenig von ihrer Faßlichkeit abhängt, daß sie durch Dunkelheit vielmehr gesteigert werden kann.



  1. Gründliche Anleitung zur Teutschen aecuraten Reim- und Dichtkunst, durch richtige Lehr-Art, deutliche Reguln und reine Exempel vorgestellet: ... von Magnus Daniel Omeis. Nürnberg 1704; zitiert nach Popp l.c. [S. 70]. S.45.
  2. Borinski: Die Antike in Poetik und Kunsttheorie. Bd 1, l.c. [S. 140]. S. 190.
  3. Harsdörffer: Poetischer Trichter. 2, l.c. [S. 64]. S. 78 f.
  4. Werner Richter: Liebeskampf 1630 und Schaubühne 1670. Ein Beitrag zur deutschen Theatergeschichte des siebzehnten Jahrhunderts. Berlin 1910. (Palaestra. 78.) S. 170 f.
  5. Cf. Flemming: Geschichte des Jesuitentheaters in den Landen deutscher Zunge l.c. [S. 74]. S. 270 ff.