[Die Ruine]
Wenn mit dem Trauerspiel die Geschichte in den Schauplatz hineinwandert, so tut sie es als Schrift. Auf dem Antlitz der Natur steht ›Geschichte‹ in der Zeichenschrift der Vergängnis. Die allegorische Physiognomie der Natur-Geschichte, die auf der Bühne durch das Trauerspiel gestellt wird, ist wirklich gegenwärtig als Ruine. Mit ihr hat sinnlich die Geschichte in den Schauplatz sich verzogen. Und zwar prägt, so gestaltet, die Geschichte nicht als Prozeß eines ewigen Lebens, vielmehr als Vorgang unaufhaltsamen Verfalls sich aus. Damit bekennt die Allegorie sich jenseits von Schönheit. Allegorien sind im Reiche der Gedanken was Ruinen im Reiche der Dinge. Daher denn der barocke Kultus der Ruine. Von ihm weiß, weniger erschöpfend im Begründen als treffend im Bericht von dem Tatsächlichen, Borinski. »Der gebrochene Giebel, die zertrümmerten Säulen sollen das Wunder bezeugen, daß das heilige Bauwerk selbst den elementarsten Kräften der Zerstörung, Blitz, Erdbeben, standgehalten. Das künstlich Ruinöse dabei erscheint als das letzte Erbe des nur noch tatsächlich, als malerisches Trümmerfeld, auf modernem Boden angesehenen Altertums.«1 Eine Anmerkung sagt: »Man verfolge das Ansteigen dieser Tendenz an dem sinnreichen Brauche der Renaissancekünstler, die Geburt und Anbetung Christi statt in den mittelalterlichen Stall, in die Ruinen eines antiken Tempels zu verlegen. Diese bei einem D. Ghirlandaio (Florenz, Accademia) noch aus lauter tadellos erhaltenen Musterprunkstücken bestehend, erreichen jetzt ihren Selbstzweck, als malerische Kulisse vergänglicher Pracht zu dienen, in den plastisch farbigen Krippendarstellungen.«2 Weit über die antikischen Reminiszenzen setzt aktualstes Stilgefühl sich darin durch. Was da in Trümmern abgeschlagen liegt, das hochbedeutende Fragment, das Bruchstück: es ist die edelste Materie der barocken Schöpfung. Denn jenen Dichtungen ist es gemein, ohne strenge Vorstellung eines Ziels Bruchstücke ganz unausgesetzt zu häufen und in der unablässigen Erwartung eines Wunders Stereotypien für Steigerung zu nehmen. Als ein Wunder in diesem Sinne müssen die barocken Literaten das Kunstwerk betrachtet haben. Und wenn es andererseits als das errechenbare Resultat der Häufung ihnen winkte, ist beides um nichts weniger vereinbar, als das ersehnte wunderbare ›Werk‹ mit den subtilen theoretischen Rezepten in dem Bewußtsein eines Alchimisten. Der Praktik der Adepten ähnelt das Experimentieren der barocken Dichter. Was die Antike hinterlassen hat, sind ihnen Stück für Stück die Elemente, aus welchen sich das neue Ganze mischt. Nein: baut. Denn die vollendete Vision von diesem Neuen war: Ruine. Der überschwenglichen Bewältigung antiker Elemente in einem Bau, der, ohne sie zum Ganzen zu vereinen, in der Zerstörung noch antiken Harmonien überlegen wäre, gilt jene Technik, die im Einzelnen ostentativ auf die Realien, Redeblumen, Regeln sich bezieht. ›Ars inveniendi‹ muß die Dichtung heißen. Die Vorstellung von dem genialen Menschen, dem Meister artis inveniendi, ist die eines Mannes gewesen, der souverän mit Mustern schalten konnte. Die ›Phantasie‹, das schöpferische Vermögen im Sinne der Neueren, war unbekannt als Maßstab einer Hierarchie der Geister. »Daß bishero unsern Opitius niemand in der teutschen Poeterey nur gleichkommen, viel weniger überlegen sein können (welches auch ins künftige nicht geschehen wird), ist die vornehmste Ursache, daß neben der sonderbaren Geschicklichkeit der trefflichen Natur, so in ihm ist, er in der Latiner und Griechen Schriften sowohl (!) belesen und selbe so artig auszudrücken und inventieren weiß.«3 Die deutsche Sprache aber, wie die Grammatiker der Zeit sie sahen, ist in diesem Sinne nur eine andere ›Natur‹ neben der der antiken Muster. »Die Sprachnatur«, so erläutert Hankamer deren Auffassung, »enthält schon alle Geheimnisse wie die materielle Natur.« Der Dichter »führt ihr keine Kräfte zu, schafft keine neue Wahrheit aus der eigenschöpferischen Seele, die sich ausspricht«4. Sein Kombinieren darf der Dichter nicht vertuschen, wenn anders nicht sowohl das bloße Ganze, denn dessen offenbare Konstruktion das Zentrum aller intentionierten Wirkungen war. Daher die Ostentation der Faktur, die, bei Calderon zumal, hervorbricht wie die aufgemauerte Wand am Gebäude, dessen Verputz sich gelöst hat. So ist, wenn man will, die Natur auch den Dichtern dieser Periode die große Lehrmeisterin geblieben. Aber ihnen erscheint sie nicht in der Knospe und Blüte, sondern in Überreife und Verfall ihrer Geschöpfe. Natur schwebt ihnen vor als ewige Vergängnis, in der allein der saturnische Blick jener Generationen die Geschichte erkannte. In ihren Denkmälern, den Ruinen, hausen, nach Agrippa von Nettesheim, die Saturntiere. Mit dem Verfall, und einzig und allein mit ihm, schrumpft das historische Geschehen und geht ein in den Schauplatz. Der Inbegriff jener verfallenden Dinge ist der extreme Gegensatz zum Begriff der verklärten Natur, den die Frührenaissance faßte. Von diesem hat Burdach gezeigt, daß er »keineswegs der unsrige« war. »Er bleibt noch lange abhängig vom Sprachgebrauch und Denken des Mittelalters, mag auch die Wertung des Worts und der Vorstellung ›Natur‹ sichtlich steigen. Unter Naturnachahmung jedesfalls versteht die Kunsttheorie des 14. bis 16. Jahrhunderts die Nachahmung der von Gott gestalteten Natur.«5 Diejenige Natur aber, in welche das Bild des Geschichtsverlaufes sich eindrückt, ist die gefallene. Die Neigung des Barock zur Apotheose ist Widerspiel von der ihm eigenen Betrachtungsart der Dinge. Sie tragen auf der Vollmacht ihres allegorischen Bedeutens das Siegelbild des Allzu-Irdischen. Niemals verklären sie sich von innen. Daher ihre Bestrahlung im Rampenlicht der Apotheose. Kaum je war eine Dichtung, deren virtuoser Illusionismus gründlicher ihren Werken jenen Schein ausgetrieben hätte, der da verklärt und durch den mit Recht man einst das Wesen künstlerischer Bildung zu bestimmen strebte. Von der Scheinlosigkeit aller barocken Lyrik läßt sich als einem ihrer strengsten Charakteristika sprechen. Im Drama ist es nicht anders. »So muß man durch den Tod in jenes Leben dringen/ | Das uns Aegyptens Nacht in Gosems Tag verkehrt/ | Und den beperlten Rock der Ewigkeit gewehrt!«6 So malt, vom Standpunkt des Theaterfundus, Hallmann das ewige Leben. Das verstockte Haften am Requisit vereitelte die Darstellung der Liebe. Weltfremde, in die Vorstellung verlorene Geilheit hat das Wort. »Ein schönes Weib ist ja/ die tausend Zierden mahlen/ | Ein unverzehrlig Tisch/ der ihrer viel macht satt/ | Ein unverseigend Kwäll/ das allzeit Wasser hat/ | Ja süsse Libes-Milch; Wenn gleich in hundert Röhre | Der linde Zukker rinnt. Es ist der Unhold Lehre/ | Des schelen Neides Art/ wenn andern man verwehrt | Die Speise/ die sie labt/ sich aber nicht verzehrt.«7 Jede zulängliche Verhüllung im Gehalt fehlt den typischen Barockwerken. Ihr Anspruch, selbst in den geringen Dichtungsformen, ist beklemmend. Und vollends fehlt der Zug zum Kleinen, zum Geheimnis. So üppig wie vergeblich trachtet man durch Rätselhaftes und Verstecktes es abzulösen. Lust weiß im wahren Kunstwerk sich flüchtig zu machen, im Augenblick zu leben, hinzuschwinden, neuzuwerden. Das barocke Kunstwerk will nichts als dauern und klammert sich mit allen Organen ans Ewige. Mit welcher befreiender Süße den Leser die ersten »Tändeleyen« des neuen Jahrhunderts verführten und wie die Chinoiserie dem Rokoko zum Gegenbilde des hieratischen Byzanz ward, begreift sich nur so. Spricht der barocke Kritiker vom Gesamtkunstwerk als dem Gipfel in der ästhetischen Hierarchie des Zeitalters und als dem Ideal der Trauerspiele selbst,8 so bekräftigt er auf neue Art diesen Geist der Schwere. Harsdörffer als gewiegter Allegoriker ist, unter vielen Theoretikern, am gründlichsten für die Verflechtung aller Künste eingetreten. Denn eben dies diktiert die Herrschaft allegorischer Betrachtung. Winckelmann macht den Zusammenhang, polemisch übertreibend, doch nur deutlich, denn er bemerkt: »Vergebens ist ... die Hoffnung derjenigen, welche glauben, es sey die Allegorie so weit zu treiben, daß man so gar eine Ode würde mahlen können«9. Ein anderes tritt, befremdender, hinzu. Wie führen die Dichtungen des Jahrhunderts sich ein: Widmungen, Vor- und Nachreden, eigene sowohl als fremde, Gutachten, Referenzen vor den Meistern sind die Regel. Als überladenes Rahmenwerk umgeben sie die größeren und die Gesamtausgaben ausnahmslos. Denn der Blick, der an der Sache selbst sich zu genügen gewußt hätte, war selten. Mitten in ihren weltläufigen Beziehungen gedachte man Kunstwerke sich anzueignen und weit weniger als später war die Beschäftigung mit ihnen rechenschaftfreie Privatsache. Die Lektüre war obligat und war bildend. Als Korrelat solcher Verfassung unterm Publikum begreift sich die gedachte Massigkeit, Geheimnislosigkeit und Breite der Produkte. Sie fühlen minder in der Zeit mit Wachstum auszubreiten sich bestimmt als irdisch, gegenwärtig ihren Platz zu füllen. Sie haben in so manchem Sinne ihren Lohn dahin. Doch eben darum liegt mit seltener Deutlichkeit in ihrer ferneren Dauer die Kritik entfaltet. Sie sind von Anbeginn auf jene kritische Zersetzung angelegt, die der Verlauf der Zeit an ihnen übte. Die Schönheit hat nichts Eigenstes für den Unwissenden. Dem ist das deutsche Trauerspiel spröde wie weniges. Sein Schein ist abgestorben, weil es der roheste war. Was dauert, ist das seltsame Detail der allegorischen Verweisungen: ein Gegenstand des Wissens, der in den durchdachten Trümmerbauten nistet. Kritik ist Mortifikation der Werke. Dem kommt das Wesen dieser mehr als jeder andern Produktion entgegen. Mortifikation der Werke: nicht also — romantisch — Erweckung des Bewußtseins in den lebendigen,10 sondern Ansiedlung des Wissens, in ihnen, den abgestorbenen. Schönheit, die dauert, ist ein Gegenstand des Wissens. Und ist es fraglich, ob die Schönheit, welche dauert, so noch heißen dürfe — fest steht, daß ohne Wissenswürdiges im Innern es kein Schönes gibt. Die Philosophie darf nicht versuchen, es abzustreiten, daß sie das Schöne der Werke wieder erweckt. »Die Wissenschaft kann zum naiven Kunstgenuß nicht anleiten, so wenig die Geologen und Botaniker den Sinn für eine schöne Landschaft erwecken können«11: diese Behauptung ist so schief, wie das Gleichnis, das sie decken soll, irrig. Sehr wohl vermögen dies der Geologe, der Botaniker. Ja ohne ein zumindest ahnendes Erfassen vom Leben des Details durch die Struktur bleibt alle Neigung zu dem Schönen Träumerei. Struktur und Detail sind letzten Endes stets historisch geladen. Es ist der Gegenstand der philosophischen Kritik zu erweisen, daß die Funktion der Kunstform eben dies ist: historische Sachgehalte, wie sie jedem bedeutenden Werk zugrunde liegen, zu philosophischen Wahrheitsgehalten zu machen. Diese Umbildung der Sachgehalte zum Wahrheitsgehalt macht den Verfall der Wirkung, in dem von Jahrzehnt zu Jahrzehnt das Ansprechende der früheren Reize sich mindert, zum Grund einer Neugeburt, in welcher alle ephemere Schönheit vollends dahinfällt und das Werk als Ruine sich behauptet. Im allegorischen Aufbau des barocken Trauerspiels zeichnen solch trümmerhafte Formen des geretteten Kunstwerks von jeher deutlich sich ab.
- Borinski: Die Antike in Poetik und Kunsttheorie. Bd 1, l.c. [S. 140]. S. 193 f.↩
- L.c. S. 305 f. (Anm.).↩
- A[ugust] Büchners Wegweiser zur deutschen Ticbtkunst. Aus ezzlichen geschriebenen Exemplarien ergänzet, mit einem Register vermehrt, und auf vielfältiges Ansuchen der studierenden Jugend izo zum erstenmahl hervorgegeben durch M. Georg Gözen, Kais, gekrönten Poeten, der philosophischen Fakultät zu Jehn adjunctum. Jehna o. J. [1663]. S. 80 ff.; zitiert nach Borcherdt: Augustus Buchner l.c. [S. 37]. S. 81.↩
- Paul Hankamer: Die Sprache. Ihr Begriff und ihre Deutung im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert. Ein Beitrag zur Frage der literarhistorischen Gliederung des Zeitraums. Bonn 1927. S. 135.↩
- Burdach l.c. [S. 23]. S. 178.↩
- Hallmann: Trauer-, Freuden- und Schäferspiele l.c. [S. 58]. ›Mariamne‹ S. 90 (V, 472 ff.).↩
- Lohenstein: Römische Trauerspiele l.c. [S. 87]. S. 50 (Agrippina II, 380 ff.).↩
- Cf. Kolitz l.c. [S. 93]. S. 166 f.↩
- Winckelmann l.c. [S. 195]. S. 19.↩
- Cf. Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik l.c. [S. 175]. S. 53 ff. [Schriften. 2, l.c. [S. 31 f.]. S. 468 ff.]↩
- Petersen l.c. [S. 39]. S. 12.↩