Naturwissenschaft
Naturwissenschaft. Die „reine“ Naturwissenschaft ist dadurch möglich, daß ihre synthetischen Urteile (s. d.) a priori, ihre apriorischen Grundsätze (s. d.) zugleich Bedingungen der naturwissenschaftlichen Erfahrung und der Gegenstände derselben sind. In diesen Grundsätzen finden die dem reinen Verstande entspringenden Kategorien ihre Anwendung auf das Mannigfaltige der Anschauung. Die Objekte der Naturwissenschaft sind nicht Dinge an sich, sondern Erscheinungen in ihrem gesetzmäßigen Zusammenhange (s. Natur), deren allgemeinste Formen a priori erkannt werden, wenn auch die einzelnen naturwissenschaftliche» Erkenntnisse nur an der Erfahrung zu gewinnen sind. Exakte Naturwissenschaft bedarf der Mathematik, ist ohne sie nicht möglich; ebenso muß sie unablässig dem Mechanismus des Geschehens nachgehen, auch wenn sie sich des Zweckbegriffs (s. d.) als eines regulativen Prinzips bedient. Innerhalb der Naturwissenschaft kommt das Übersinnliche oder das Übernatürliche nicht in Betracht. Der Inbegriff der reinen, apriorischen Naturerkenntnis bildet die „Metaphysik der Natur“.
Bei Beschränkung auf Erfahrung und Mathematik kann man „zwar die Gesetze der Natur, aber nicht den Ursprung und die Ursache dieser Gesetze kennenlernen. Denn wer nur bei den Erscheinungen der Natur stehen bleibt, dem bleibt die Erkenntnis der tiefer liegenden Ursachen immer verschlossen.“ „Wenn daher auch die meisten glauben, bei der Natur forschung der Metaphysik leicht entbehren zu können, so bleibt sie doch hier allein die Helferin, welche das Licht anzündet. Denn die Körper bestehen aus Teilen, und es ist sicherlich von großer Wichtigkeit, daß man es genau begreiflich mache, wie diese Teile verbunden sind, ob die Körper durch das bloße gemeinsame Dasein ihrer einfachen Teile oder durch den gegenseitigen Kampf der Kräfte den Raum erfüllen“, Phys. Monadologie Vorw. (VII 343 f.).
„Als Galilei seine Kugeln die schiefe Fläche mit einer von ihm selbst gewählten Schwere herabrollen, oder Torricelli die Luft ein Gewicht, was er sich zum voraus dem einer ihm bekannten Wassersäule gleich gedacht hatte, tragen ließ, oder in noch späterer Zeit Stahl Metalle in Kalk und diesen wiederum in Metall verwandelte, indem er ihnen etwas entzog und wiedergab; so ging allen Naturforschern ein Licht auf. Sie begriffen, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwürfe hervorbringt, daß sie mit Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen müsse, auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse; denn sonst hängen zufällige, nach keinem vorher entworfenen Plane gemachte Beobachtungen gar nicht in einem notwendigen Gesetze zusammen, welches doch die Vernunft sucht und bedarf. Die Vernunft muß mit ihren Prinzipien, nach denen allein übereinkommende Erscheinungen für Gesetze gelten können, in einer Hand, und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen, an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt. Und so hat sogar Physik die so vorteilhafte Revolution ihrer Denkart lediglich dem Einfalle zu verdanken, demjenigen, was die Vernunft selbst in die Natur hineinlegt gemäß, dasjenige in ihr zu suchen (nicht ihr anzudichten), was sie von dieser lernen muß, und wovon sie für sich selbst nichts wissen würde. Hierdurch ist die Naturwissenschaft allererst in den sicheren Gang einer Wissenschaft gebracht worden, da sie so viele Jahrhunderte durch nichts weiter als ein bloßes Herumtappen gewesen war“, KrV Vorr. z. 2. A. (I 26—Ro 20 f.). „Naturwissenschaft (Physica) enthält synthetische Urteile a priori als Prinzipien in sich. Ich will nun ein paar Sätze zum Beispiel anführen, als den Satz, daß in allen Veränderungen der körperlichen Welt die Quantität der Materie unverändert bleibe, oder daß in aller Mitteilung der Bewegung Wirkung und Gegenwirkung jederzeit einander gleich sein müssen. An beiden ist nicht allein die Notwendigkeit, mithin ihr Ursprung a priori, sondern auch, daß sie synthetische Sätze sind, klar. Denn in dem Begriffe der Materie denke ich mir nicht die Beharrlichkeit, sondern bloß ihre Gegenwart im Raume durch die Erfüllung desselben. Also gehe ich wirklich über den Begriff von der Materie hinaus, um etwas a priori zu ihm hinzuzudenken, was ich in ihm nicht dachte. Der Satz is also nicht analytisch, sondern synthetisch und dennoch a priori gedacht, und so in den übrigen Sätzen des reinen Teils der Naturwissenschaft“, KrV Einl. V (I 62—Rc 71 f.). Diese apriorischen Grundsätze der Naturwissenschaft machen eine reine oder rationale Physik aus, die es verdient, als eigene Wissenschaft aufgestellt zu werden, ibid. VI, Anm. (I 64—Rc 77).
Wir sind im Besitze einer reinen Naturwissenschaft, „die a priori und mit aller derjenigen Notwendigkeit, welche zu apodiktischen Sätzen erforderlich ist, Gesetze vorträgt, unter denen die Natur steht“. „Ich darf hier nur diejenige Propädeutik der Naturlehre, die unter dem Titel der allgemeinen Naturwissenschaft vor aller Physik (die auf empirische Prinzipien gegründet ist) vorhergeht, zum Zeugen rufen. Darin findet man Mathematik angewandt auf Erscheinungen, auch bloß diskursive Grundsätze (aus Begriffen), welche den philosophischen Teil der reinen Naturerkenntnis ausmachen.“ „Allein es ist doch auch manches in ihr, was nicht ganz rein und von Erfahrungsquellen unabhängig ist: als der Begriff der Bewegung, der Undurchdringlichkeit (worauf der empirische Begriff der Materie beruht), der Trägheit u. a. m., welche es verhindern, daß sie nicht ganz reine Naturwissenschaft heißen kann; zudem geht sie nur auf die Gegenstände äußerer Sinne, also gibt sie kein Beispiel von einer allgemeinen Naturwissenschaft in strenger Bedeutung; denn die muß die Natur überhaupt, sie mag den Gegenstand äußerer Sinne oder den des inneren Sinnes (den Gegenstand der Physik sowohl als Psychologie) betreffen, unter allgemeine Gesetze bringen.“ „Es finden sich aber unter den Grundsätzen jener allgemeinen Physik etliche, die wirklich die Allgemeinheit haben, die wir verlangen, als der Satz: daß die Substanz bleibt und beharrt, daß alles, was geschieht, jederzeit durch eine Ursache nach beständigen Gesetzen vorher bestimmt sei usw. Diese sind wirklich allgemeine Naturgesetze, die völlig a priori bestehen. Es gibt also in der Tat eine reine Naturwissenschaft, und nun ist die Frage: wie ist sie möglich?“, Prol. § 16 (III 51). Die Frage ist identisch mit der: „Wie ist die notwendige Gesetzmäßigkeit der Dinge als Gegenstände der Erfahrung, oder: wie ist die notwendige Gesetzmäßigkeit der Erfahrung selbst in Ansehung aller ihrer Gegenstände überhaupt a priori zu erkennen möglich?“ Die Natur als Gegenstand möglicher Erfahrung ist aus den „allgemeinen und a priori gegebenen Bedingungen“ der Möglichkeit der Erfahrung zu bestimmen, ibid. § 17 (III 53 f.). Die Grundsätze möglicher Erfahrung sind zugleich allgemeine Gesetze der Natur, welche a priori erkannt werden können, und denen die Gegenstände der Erfahrung angemessen sein müssen. Diese apriorischen Grundsätze, welche „allgemeingültige synthetische Sätze“ sind, bilden ein „Natursystem“, „welches vor aller empirischen Naturerkenntnis vorhergeht, diese zuerst möglich macht und daher die eigentliche allgemein und reine Naturwissenschaft genannt werden kann“, ibid. § 23 (III 64 f.).
Die „Naturlehre“ gliedert sich in die „historische Naturlehre, welche nichts als systematisch geordnete Fakta der Naturdinge enthält (und wiederum aus Naturbeschreibung, als einem Klassensystem derselben nach Ähnlichkeiten, und Naturgeschichte, als einer systematischen Darstellung derselben in verschiedenen Zeiten und Örtern, bestehen würde)“, und Naturwissenschaft (als Körper- und Seelenlehre) Die „eigentliche“ Naturwissenschaft behandelt ihren Gegenstand „gänzlich nach Prinzipien a priori“, die uneigentlich so genannte Naturwissenschaft aber nach „Erfahrungsgesetzen“. Die Erkenntnis der ersteren ist „rein“, die der zweiten „angewandte“ Vernunfterkenntnis. „Alle eigentliche Naturwissenschaft bedarf also einen reinen Teil, auf dem sich die apodiktische Gewißheit, die die Vernunft in ihr sucht, gründen könne.“ Jede Naturlehre muß zuletzt auf Naturwissenschaft hinausgehen und in einer solchen endigen. Eigentliche Naturwissenschaft setzt zuletzt „Metaphysik der Natur“ voraus. Von den „Gesetzen, die den Begriff einer Natur überhaupt möglich machen“, handelt der „transzendentale“ Teil dieser Metaphysik. Der andere Teil beschäftigt sich „mit einer besonderen Natur dieser oder jener Art Dinge, von denen ein empirischer Begriff gegeben ist, doch so, daß außer dem, was in diesem Begriffe liegt, kein anderes empirisches Prinzip zur Erkenntnis derselben gebraucht wird“. In dieser „besonderen“ metaphysischen Naturwissenschaft werden jene transzendentalen Prinzipien auf die zwei Gattungen der Gegenstände unserer Sinne (Materie, Seele) angewandt. In jeder besonderen Naturlehre ist nur so viel eigentliche Wissenschaft, als darin Mathematik anzutreffen ist. Um die Möglichkeit bestimmter Naturdinge (also diese a priori) zu erkennen, muß der Begriff „konstruiert“ werden können, und diese Konstruktion (s. d.) der Begriffe in der Anschauung ist mathematisch, Anfangsgr. d. Naturw. Vorr. (VII 190 f.).
„Zu dem theoretisch-dogmatischen Teile der Metaphysik gehört auch die allgemeine rationale Naturlehre, d. i. reine Philosophie über Gegenstände der Sinne, der äußeren, d. i. rationale Körperlehre, und des inneren, die rationale Seelenlehre, wodurch die Prinzipien der Möglichkeit einer Erfahrung überhaupt auf eine zwiefache Art Wahrnehmungen angewandt werden, ohne sonst etwas Empirisches zum Grunde zu legen, als daß es zwei dergleichen Gegenstände gebe. — In beiden kann nur soviel Wissenschaft sein, als darin Mathematik, d. i. Konstruktion der Begriffe, angewandt werden kann; daher das Räumliche der Gegenstände der Physik mehr a priori vermag als die Zeitform, welche der Anschauung durch den inneren Sinn zum Grunde liegt, die nur eine Dimension hat“, Fortschr. d. Metaph. 2. Abt. 1. Stadium (V 3,114). Vgl. Physik, Chemie, Psychologie, Naturgeschichte, Bewegungslehre.