Natur
Natur. Die (sinnlich wahrnehmbare, im Unterschiede von der übersinnlichen, urbildlichen) Natur ist nicht die Wirklichkeit, wie sie an sich besteht, sondern der systematische Zusammenhang physischer und psychischer Erscheinungen unter einheitlichen, ihren Ablauf regelnden Gesetzen. Die Natur umfaßt die Außen- und Innenwelt als gesetzmäßige Erscheinung der Dinge an sich, und der Mechanismus des Geschehens als solcher hat innerhalb der Natur allgemeine Geltung; hier ist alles kausal-gesetzlich bestimmt, notwendig, ohne daß deshalb in dem Dinge an sich, in der Welt als Noumenon (s. d.) Freiheit (s. d.) ausgeschlossen ist. Der übersinnliche Grund der Natur ist unerkennbar. Der Mensch (s. d.) gehört als Sinnenwesen zur Natur, als Vernunftwesen aber ist er „Ding an sich“, gehört er der „intelligiblen Welt“ an und steht er unter Freiheits-, nicht Naturgesetzen. Die Religion stellt zwischen dem Reich der Natur und dem Reich der Freiheit (der Sittlichkeit) gedanklich Einheit her. Die Natur als einheitlicher Erscheinungszusammenhang ist formal durch die Gesetzlichkeit des Verstandes bestimmt, dieser gibt der Natur Gesetze (s. d.), nach denen sich die Natur richten muß.
Die Natur kann betreffs ihrer Gesetzmäßigkeit vom Verstande (s. d.), von der Einheit der Apperzeption (s. d.) abhängig sein (s. Gesetz), weil sie nichts ist als ein „Inbegriff von Erscheinungen“, „Objekt aller möglichen Erfahrung“ ist, KrV 1. A. tr. Anal. 1. B. 2. H. 2. Abs. (1 718—Rc 198). „Die Ordnung und Regelmäßigkeit also an den Erscheinungen, die wir Natur nennen, bringen wir selbst hinein, und würden sie auch nicht darin finden können, hätten wir sie nicht, oder die Natur unseres Gemüts, ursprünglich hineingelegt.“ Diese „Natureinheit“ ist „eine notwendige, d. i. a priori gewisse Einheit der Verknüpfung der Erscheinungen“, die in dem reinen Verstande ihre Quelle hat. Der Verstand ist, als „Vermögen der Regeln“, selbst die „Gesetzgebung für die Natur“, d. h. ohne ihn würde es nicht „Natur“, d. h. „synthetische Einheit des Mannigfaltigen der Erscheinungen nach Regeln“ geben. Der Verstand ist „selbst der Quell der Gesetze der Natur, und mithin der formalen Einheit der Natur“, ibid. 3. Abs. (I 726 f.—Rc 216 f.). Natur ist, materialiter, der „Inbegriff aller Erscheinungen“. Formaliter ist sie die Gesetzmäßigkeit dieser. Die „Natur überhaupt“ ist (formal) die „Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen in Raum und Zeit“, KrV tr. Anal. § 26 (I 173 f.—Rc 221 f.). „Unter Natur (im empirischen Verstande) verstehen wir den Zusammenhang der Erscheinungen ihrem Dasein nach, nach notwendigen Regeln, d. i. nach Gesetzen.“ Gewisse Gesetze (s. d.) a priori, bzw. Grundsätze (s. d.), machen erst eine Natur möglich. Die „Analogien der Erfahrung“ verknüpfen den Inhalt möglicher Erfahrung zu einer „Natureinheit“ und sagen: „Alle Erscheinungen liegen in einer Natur und müssen darin liegen, weil ohne diese Einheit a priori keine Einheit der Erfahrung, mithin auch keine Bestimmung der Gegenstände in derselben möglich wäre“, ibid. tr. Anal. 2. B. 2. H. 3. Abs. 3. Analogie (I 247—Rc 307). Die Welt ist „Natur“, „sofern sie als ein dynamisches Ganzes betrachtet wird, und man nicht auf die Aggregation im Raume oder der Zeit, um sie als eine Größe zustande zu bringen, sondern auf die Einheit im Dasein der Erscheinungen sieht“, ibid. tr. Dial. 2. B. 2. H. 1. Abs. (I 382—Rc 507). „Natur, adjective (formaliter) genommen, bedeutet den Zusammenhang der Bestimmungen eines Dinges nach einem inneren Prinzip der Kausalität. Dagegen versteht man unter Natur, Substantive (materialiter), den Inbegriff der Erscheinungen, sofern diese vermöge eines inneren Prinzips der Kausalität durchgängig zusammenhängen“ (z. B. Natur des Feuers, aber: die Dinge der Natur), ibid. 2. Anm. (I 382—Rc 507).
„Natur ist das Dasein der Dinge, sofern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist.“ „Sollte Natur das Dasein der Dinge an sich selbst bedeuten, so würden wir sie niemals, weder a priori noch a posteriori, erkennen können. Nicht a priori, denn wie wollen wir wissen, was den Dingen an sich selbst zukomme, da dieses niemals durch Zergliederung unserer Begriffe (analytische Sätze) geschehen kann, weil ich nicht wissen will, was in meinem Begriffe von einem Dinge enthalten sei (denn das gehört zu seinem logischen Wesen), sondern was in der Wirklichkeit des Dinges zu diesem Begriffe hinzukomme, und wodurch das Ding selbst in seinem Dasein außer meinem Begriffe bestimmt sei.“ Die Dinge müßten mir vorher gegeben sein, dann würden sie aber nicht a priori erkannt. Auch a posteriori wäre eine Erkenntnis der Natur der Dinge an sich unmöglich. Denn „wenn mich Erfahrung Gesetze, unter denen das Dasein der Dinge steht, lehren soll, so müßten diese, sofern sie Dinge an sich selbst betreffen, auch außer meiner Erfahrung ihnen notwendig zukommen“. „Nun lehrt mich die Erfahrung zwar, was da sei, und wie es sei, niemals aber, daß es notwendigerweise so und nicht anders sein müsse. Also kann sie die Natur der Dinge an sich selbst niemals lehren“, Prol. § 14 (III 50 f.). Natur hedeutet nicht bloß „die Gesetzmäßigkeit der Bestimmungen des Daseins der Dinge überhaupt“, sondern auch (materialiter) den „Inbegriff aller Gegenstände der Erfahrung“. Was nicht ein Gegenstand der Erfahrung sein kann, dessen Erkenntnis wäre „hyperphysisch“. Die Naturwissenschaft (s. d.) hat es nur mit Erfahrbarem zu tun, nicht mit den Dingen an sich, ibid. § 16 (III 52). „Das Formale der Natur in dieser engeren Bedeutung ist also die Gesetzmäßigkeit aller Gegenstände der Erfahrung und, sofern sie a priori erkannt wird, die notwendige Gesetzmäßigkeit derselben“, ibid. § 17 (III 52); vgl. Gesetz, Erfahrung. Der „höchste Punkt“ der transzendentalen Philosophie ist die Frage: „Wie ist Natur selbst möglich?“ Sie enthält eigentlich zwei Fragen: „Erstlich: Wie ist Natur in materieller Bedeutung, nämlich der Anschauung nach, als der Inbegriff der Erscheinungen; wie ist Raum, Zeit und das, was beide erfüllt, der Gegenstand der Empfindung, überhaupt möglich? Die Antwort ist: Vermittelst der Beschaffenheit unserer Sinnlichkeit, nach welcher sie auf die ihr eigentümliche Art von Gegenständen, die ihr an sich selbst unbekannt und von jenen Erscheinungen ganz unterschieden sind, gerührt wird.“ „Zweitens: Wie ist Natur in formeller Bedeutung als der Inbegriff der Regeln, unter denen alle Erscheinungen stehen müssen, wenn sie in einer Erfahrung als verknüpft gedacht werden sollen, möglich? Die Antwort kann nicht anders ausfallen als: Sie ist nur möglich vermittelst der Beschaffenheit unseres Verstandes, nach welcher alle jene Vorstellungen der Sinnlichkeit auf ein Bewußtsein notwendig bezogen werden, und wodurch allererst die eigentümliche Art unseres Denkens, nämlich durch Regeln, und vermittelst dieser die Erfahrung, welche von der Einsicht der Objekte an sich selbst ganz zu unterscheiden ist, möglich ist.“ „Wie aber diese eigentümliche Eigenschaft unserer Sinnlichkeit selbst oder die unseres Verstandes und der ihm und allem Denken zum Grunde liegenden notwendigen Apperzeption möglich sei, läßt sich nicht weiter auflösen und beantworten, weil wir ihrer zu aller Beantwortung und zu allem Denken der Gegenstände immer wieder nötig haben.“ Die „Möglichkeit der Erfahrung überhaupt“ ist zugleich das „allgemeine Gesetz der Natur“. „Der Verstand schöpft seine Gesetze (a priori) nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor“, ibid. § 36 (III 79 ff.). Natur ist, formal, das „erste innere Prinzip alles dessen“, „was zum Dasein eines Dinges gehört“. In materialer Beziehung ist Natur „der Inbegriff aller Dinge, sofern sie Gegenstände unserer Sinne, mithin auch der Erfahrung sein können, worunter also das Ganze aller Erscheinungen, d. i. die Sinnenwelt, mit Ausschließung aller nicht sinnlichen Objekte, verstanden wird“. Zu unterscheiden sind hier die „ausgedehnte“ und die „denkende“ Natur als Inbegriff der Gegenstände der äußeren Sinne und des inneren Sinnes, Anfangsgr. d. Naturw. Vorr. (VII 189). „Die Welt als Gegenstand des äußeren Sinnes ist Natur“, Phys. Geographie, Einl. § 2 (IX 8). — Die Allgemeinheit des Gesetzes, wonach Wirkungen geschehen, macht das aus, was eigentlich „Natur“ (der Form nach) heißt, d. h. das Dasein der Dinge, sofern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist, GMS 2. Abs. (III 44). „Die Teleologie erwägt die Natur als ein Reich der Zwecke, die Moral ein mögliches Reich der Zwecke als ein Reich der Natur“, ibid. 12. Anm. (III 62 f.). — Dem Reiche der Natur steht das der Freiheit {s. d.) gegenüber, d. h. die Sphäre der Gesetzgebung der praktischen Vernunft im Unterschiede vom Reiche der Naturgesetze und des durch sie Bestimmten. Der Mensch gehört beiden Reichen an, er begründet durch seinen sittlichen Willen gleichsam eine besondere Natur (s. Reich der Zwecke, Imperativ, Gnade).
Natur im umfassenden Sinne ist der „Inbegriff von allem..., was nach Gesetzen bestimmt existiert, die Welt (als eigentlich so genannte Natur) mit ihrer obersten Ursache zusammengenommen“, Gebrauch teleolog. Prinzipien, am Anfang (VIII 131). Natur ist der „Inbegriff der Gegenstände der Sinne“, Fortschr. d. Metaph. 1. Abt. V. d. Umfange ... (V 3, 100); ein „Zusammenhang von Erfahrungen nach Regeln“, Log. Einl. I (IV 12). Natur bedeutet nur die Ordnung der Erscheinungen der Dinge durch die Einheit der Verstandesbegriffe, N 5607; vgl. 5608, 5600. Unser Verstand macht „nach der Ordnung der Natur, aber nicht durch dieselbe“, die Erfahrung möglich, N 5904. Natur ist „das Notwendige der Wirklichkeit“, N 4097, „der erste Realgrund der inneren Bestimmungen“, N 4095; „das innere principium causale nach beständigen Gesetzen“, N 5409. Vgl. Grundsätze, Gesetz, Regel, Erscheinung, Ordnung, Gnade.