Leiden am Leben
Leiden am Leben, eine von Goethe geprägte Wendung, der im Logennachruf vom 15. Juni 1821 spricht: „Wir leiden alle am Leben; wer will uns, außer Gott, zur Rechenschaft ziehen.“ Den Sinn der Stelle erläutert Th. Vogel in der ZfdU. 15, 390 dahin: „Wir bleiben nicht unangefochten von den Versuchungen; nicht unberührt von den schädlichen Einflüssen des Lebens“. Vgl. auch Goethes Aufsatz „Litterarischer Sansculottismus“ (1795): „Jeder, auch das größte Genie, leidet von seinem Jahrhundert in einigen Stücken, wie er von anderen Vorteil zieht.“
Aber erst Nietzsche münzt den Ausdruck wirklich aus zu schlagenden Formeln pessimistischer Lebensanschauung. So heißt es 10, 18 (1873): „Eine Zeit, die an der sogenannten allgemeinen Bildung leidet, aber keine Kultur und in ihrem Leben keine Einheit des Stils hat, wird mit der Philosophie nichts Rechtes anzufangen wissen.“ Ferner überschreibt er 2, 233 (1878) den 249. Aphorismus mit dem Motto An der Vergangenheit der Kultur leiden und erläutert: „Wer sich das Problem der Kultur klar gemacht hat, leidet dann an einem ähnlichen Gefühle wie Der, welcher einen durch unrechtmäßige Mittel erworbenen Reichtum ererbt hat … Die ganze Summe von Kraft, Lebenswillen, Freude, welche er seinem Besitz zuwendet, balanciert sich oft mit einer tiefen Müdigkeit.“ Vor allem aber ist lehrreich die Deutung, die er dem letzten Ausruf des sterbenden Sokrates 5, 264 f. (1882) gibt: „Dieses lächerliche und furchtbare „letzte Wort“ heißt für Den, der Ohren hat: „Oh Kriton, das Leben ist eine Krankheit!“ Ist es möglich! Ein Mann wie er, der heiter und vor aller Augen wie ein Soldat gelebt hat — war Pessimist! … Sokrates, Sokrates hat am Leben gelitten!“ Vgl. auch 8, 377.
Natürlich ist Nietzsche dabei stark von Schopenhauers Philosophie beeinflußt. Für die Zwischenzeit von Goethe zu Nietzsche sei auch aus Börne 6, 111 verwiesen, wo als ähnliche Wendung anklingt: „an der französischen Revolution krank darnieder liegen“.