Innere Sprachform
Wo der Geist endlich menschlich wird, wo die Sprache mit dem Denken verglichen wird, da überspringt Humboldt gerade die Fragen, auf welche alles ankommt; und weil Steinthal darin über Humboldt nicht hinausgelangt ist, so bemerkt er den Fehler in der Untersuchung gar nicht. So lange nämlich die Logik als eine Wissenschaft vom Denken Anspruch auf eine höhere metaphysische Bedeutung erhebt, solange man nicht einsieht, dass die Logik nur psychologisch verstanden werden könne, dass die Psychologie in einer erst noch zu schaffenden Geschichte der menschlichen Denkgewohnheiten Sprachwissenschaft und Logik zu behandeln haben werde, so lange kann die Einheit von Denken und Sprechen nicht völlig einleuchten. Humboldt beachtet nur wenig die Grundlage aller Sprache, die Verbindung von Vorstellung und Sprachlaut im Gehirn, und hält sich allzu philologisch zumeist an die Verbindung von Denkform und Sprachform. Hier nun stellt Humboldt ein neues Wortgespenst hin, den unklaren Begriff von einer inneren Sprachform, den Steinthal zunächst scharf kritisiert, um ihn nachher doch wieder zu verwenden. Nach Humboldt ist die innere Sprachform einmal der Inbegriff der auf die Sprache Bezug habenden Ideen; ein andermal wieder ist die innere Sprachform der Zweck des Sprachlautes, der Gebrauch, zu welchem die Spracherzeugung sich der Lautform bedient. Wenn also diese beiden Sätze nicht eine heillose Konfusion ergeben sollen, so müßten "die auf die Sprache Bezug habenden Ideen" Zweckideen sein, Endursachen, und wir stehen sofort mitten in blühender Scholastik.
Tief und unklar nennt Steinthal die Sprachphilosophie Humboldts (Körner spricht einmal zu Schiller von Humboldts "schauerlicher Tiefe") und ahnt nicht, dass Tiefe nur dem mangelhaften Verständnis unklar sein darf, nicht aber dem tiefen Lehrer und seinem besten Schüler. Für Humboldt selbst aber ist die innere Sprachform fast in jedem Paragraphen etwas anderes: einmal die Logik des Denkens, wie sie in der Grammatik zum Ausdruck kommt; einmal die abstrakte Grammatik selbst, wie sie sich in den einzelnen Sprachformen äußert; einmal sogar nur das tertium comparationis, wie es bei der Bildung neuer Worte der Phantasie vorschwebt.
Humboldt hat niemals klar ausgesprochen, ob "die auf die Sprache Bezug habenden Ideen" eine einzige innere Sprachform besitzen oder ob es so viel innere Sprachformen gibt als Völker. Da die gegenwärtige Anschauung sich den lichten Gedanken Humboldts , dass es zuletzt nur Individualsprachen gebe, zu eigen gemacht hat, so müßten wir sogar die Forderung stellen, dass jeder einzelne Mensch seine besondere innere Sprachform für sich haben müsse. Und das wäre sogar ganz richtig, wenn man den unfaßbaren Begriff "innere Sprachform" durchaus in eine Definition fassen und darunter den erworbenen und ererbten Erfahrungsschatz, wie er an die Sprache gebunden ist, sich vorstellen wollte. Er ist dann immer individuell. Humboldt aber kann heimlich den Gedanken an eine gemeinsame innere Sprachform der Menschheit nicht los werden. Diese Neigung scheint sich mir besonders lebhaft zu verraten in der fast unabsichtlichen Wertvergleichung der Sprachen. Ich will eine solche Stelle im Zusammenhange hersetzen, zugleich als Probe für Humboldts philosophischen Stil. "Zwischen dem Mangel aller Andeutung der Kategorien der Wörter, wie er sich im Chinesischen zeigt, und der wahren (!) Flexion kann es kein mit reiner Organisation der Sprache verträgliches Drittes geben. Das einzige dazwischen Denkbare ist als Beugung gebrauchte Zusammensetzung, also beabsichtigte, aber nicht zur Vollkommenheit (!) gediehene Flexion; mehr oder minder mechanische Anfügung, nicht rein organische Anbildung; dies nicht immer leicht zu erkennende Zwitterwesen hat man in neuerer Zeit Agglutination genannt. Diese Art der Anknüpfung von bestimmenden Nebenbegriffen entspringt auf der einen Seite allemal aus Schwäche des innerlich organisierenden Sprachsinns oder aus Vernachlässigung der wahren Richtung (!) desselben, deutet aber auf der anderen dennoch das Bestreben an, sowohl den Kategorien der Begriffe auch phonetische Geltung zu verschaffen, als dieselben in diesem Verfahren nicht durchaus gleich mit der wirklichen Bezeichnung der Begriffe zu behandeln. Indem also eine solche Sprache nicht auf die grammatische Andeutung Verzicht leistet, bringt sie dieselbe nicht rein zustande, sondern verfälscht sie in ihrem Wesen selbst. Sie kann daher scheinbar und bis auf einen gewissen Grad sogar wirklich eine Menge von grammatischen Formen besitzen, und doch nirgends den Ausdruck des wahren Begriffs einer solchen Form wirklich erreichen. Sie kann übrigens einzeln auch wirkliche Flexion durch innere Umänderung der Wörter enthalten, und die Zeit kann ihre ursprünglich wahren Zusammensetzungen scheinbar in Flexionen verwandeln, so dass es schwer wird, ja zum Teil unmöglich bleibt, jeden einzelnen Fall richtig zu beurteilen. ... Diese sogenannten agglutinierenden Sprachen unterscheiden sich von den flektierenden nicht der Gattung nach, wie die alle Andeutung durch Beugung zurückweisenden, sondern nur durch den Grad, in welchem ihr dunkles Streben nach derselben Richtung hin mehr oder weniger mißlingt." Steinthals Kritik hält sich an Widersprüche im Gebrauche einzelner Worte. Wir aber fragen: Was kümmert das die Sprache, ob Wilhelm von Humboldt oder sonst wer sie von einer anderen der Gattung oder nur dem Grade nach unterscheiden will? Wer hat ihm etwas von dem Streben einer Sprache verraten? Oder etwa von dem Streben nach einer wahren Richtung? Oder gar von der Vollkommenheit einer Flexion?