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Junggrammatiker

Der Unterschied zwischen der älteren Schule und derjenigen, welche gegenwärtig als die der Junggrammatiker die Sprachwissenschaft beherrschen will, besteht weder in der Methode, noch wesentlich im Stoff, sondern hauptsächlich darin, dass die ältere Schule bescheidener nach einigen "Gesetzen" des Lautwandels suchte, während die Junggrammatiker die gefundenen weniger bescheiden für Naturgesetze ausgaben. Wie gesagt: auch Jacob Grimm wußte, dass jede Änderung in der Welt ihre bestimmte und bestimmende Ursache habe; er glaubte nur nicht, das Netz dieser Ursachen zu kennen. Die Junggrammatiker bilden sich das ein oder hoffen doch, diese Kenntnis erreichen zu können, weil sie die Arbeit ihrer Vorgänger ein wenig weiter gefördert haben. Die Art dieser Selbsttäuschung wird scharf beleuchtet, wenn wir nun aus Hermann Pauls "Grundriß der germanischen Philologie", der völlig auf junggrammatischem Standpunkt steht, einige fast unfreiwillige Zugeständnisse zusammenstellen. Der Ausgangspunkt ist, dass Jakob Grimm mit bewundernswerter Arbeit zwar das Material für die neue Wissenschaft gesammelt, aber die richtigen Gesetze noch nicht gefunden habe. Ähnliches erfahren wir über größere und kleinere Forscher, die der Zeit der Junggrammatiker vorausgingen. Von Schleicher wird gesagt: es bleibe ihm zwar das Verdienst, dass er das Ziel zuerst klar vorgezeichnet habe; aber es haben sich seine Aufstellungen später in vielen Hinsichten als irrig erwiesen. Gleich darauf heißt es von Holtzmanns Abhandlungen: sie waren gleichfalls mehr durch die von ihnen ausgehende Anregung als durch ihre positiven Resultate von Bedeutung. Die neue Zeit datiert der "Grundriß" vom Jahre 1868, weil damals Scherers "Zur Geschichte der deutschen Sprache" erschien. Wer nun aus diesem Buche selbst nicht viel lernen konnte, der hofft von solchen Verehrern Scherers zu erfahren, dass dieser Forscher die so lange gesuchten Gesetze endlich entdeckt habe. Der Grundriß aber sagt: "Er wollte in raschem Anlauf mit Mitteln, die uns jetzt als durchaus unzureichend erscheinen müssen, gleich die letzten Fragen der germanischen, ja der indogermanischen Sprachgeschichte lösen, ein Unternehmen, welches notwendigerweise scheitern mußte ... So war das Ganze nicht etwa eine neue Grundlegung von bleibendem Werte, sondern nur ein allerdings höchst kräftiges Ferment in der Entwicklung, durchaus anregend, auch da, wo es zum Widerspruch reizte." Also erfahren wir, dass die Geistesarbeit der Sprachforscher niemals bleibenden wissenschaftlichen Wert hatte, immer nur anregend war, bis Leskien (1876) den berühmten Satz aufstellte, dass man keine Ausnahme von den Lautgesetzen gestatten dürfe. Da wurde die Schule der Junggrammatiker gegründet. Ihr oberster Satz von der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze, denen man Nachsicht "nicht gestatten dürfe", spricht nicht eben geschmackvoll den einfachen Gedanken aus, dass nur ausnahmslos ähnliche Erscheinungen sich nach unserem Sprachgebrauch unter dem Namen eines Gesetzes zusammenfassen lassen, dass nur aus solchen Beobachtungen sich eine Wissenschaft zusammenstellen lasse. Es ist nur die Frage, ob es solche strenge Übereinstimmungen, ob es solche Gesetze gibt. Sicherlich sind die Genusregeln der lateinischen Grammatik mit ihren Ober- und Unterausnahmen keine Gesetze. In ähnlichem Lichte erschienen den jüngeren Forschern die Lautgesetze Grimms und seiner Nachfolger, solange unerklärte Ausnahmen zu verzeichnen waren; so oft aber eine Ausnahme mit viel Witz und Gelehrsamkeit wieder in eine Rubrik gebracht war, glaubten sie den Stein der Weisen gefunden zu haben. Es ging damit wie mit anderen Wissenschaften. Der Ehrenname Gesetz wurde jedesmal der jeweilig jüngsten Beobachtung verliehen. So stellen die Junggrammatiker ideale Forderungen auf, die sie selbst niemals erfüllen können. Auch ihre Bedeutung beruht nur in der Kritik ihrer Vorgänger.

Das beinahe lachende Eingeständnis der eigenen Hilflosigkeit hat ein französischer Junggrammatiker mit den Worten ausgesprochen: es liege (in den Worten mortel und loyal, bei denen das a der lateinischen Endung einmal in e verwandelt wird und einmal nicht) nicht eine Regel und ihre Ausnahme vor, sondern zwei Regeln. Vorsichtigere Gelehrte betrachten die Forderung einer ausnahmslosen Geltung der Lautgesetze — wie Regnaud zu hübsch sagt — als Sammelpunkt für die Besonnenen, als Damm gegen die Skeptiker und als Brustwehr (garde-fou) gegen die Abenteurer. Er fügt ganz richtig hinzu, dass die Wahrheit nicht vom bewußten Irrtum ausgehen dürfe; die Unbedingtheit der Lautgesetze ist eine Hypothese, an welche ihre Erfinder selbst nicht glauben.