Psychologische Handlung
Psychologische Arbeit, Gedächtniswerk sind sowohl die konservativen Lautgesetze als die fortschrittlichen Analogiebildungen. Bei den Lautgesetzen scheint uns, den Rückschauenden, das Gedächtnis nur Ererbtes bequem fest zu halten; bei den Analogiebildungen sehen wir deutlicher, dass das Gedächtnis es sich langsam bequemer macht, um fortschreitendes Wissen in bequemerer Form konservieren zu können. In der Bezeichnung "Gedächtniswerk" liegt zweierlei: erstens, dass jedes ausgesprochene Wort — und nur das ausgesprochene Wort ist verhältnismäßig wirklich, kann wirklich verändert sein, während die Veränderung an sich nie und nirgends in der Wirklichkeit zu finden ist — eine psychologische Handlung ist, und zweitens, dass sie eine psychologische Handlung ist, das heißt, dass es mit allen großen und kleinen und mikroskopischen Unterschieden gegen seine letzte Aussprache im Augenblicke des Sprechens erst geschaffen wird. Es ist ein Verdienst der Junggrammatiker, diesen Gedanken Wilhelms von Humboldt deutlicher gemacht und durch Beobachtung der lebendigen Sprache bereichert zu haben. Wenn ich z. B. einmal des Morgens dazu käme, ärgerlich zu meinen beiden Hunden zu sagen: "Ihr belltet mich ja an, als ich um Mitternacht die Haustür aufschloß!" — so hätte ich wahrscheinlich ein Wort ausgesprochen, das ich vorher noch nie gebildet und noch nie gehört hatte, nämlich die zweite Person der Mehrzahl vom Imperfekt des Wortes bellen. Die Gelegenheit "ihr belltet" zu sagen ist selten. Ich habe wahrscheinlich nie eine andere Form benutzt als "bellen", "er bellt" und ähnliche. Will ich nun die Kategorien, die sich in der zweiten Person der Mehrzahl vom Imperfekt vereinigen, mit allen Bequemlichkeiten der Sprache kurz ausdrücken, so bilde ich fast unbewußt eine Analogie. Es ist zufällig eine falsche Analogie, weil doch der richtige Sprachgebrauch früher "er boll" lautete. Ich sage aber "er bellte" und trage damit ein winziges Teilchen zur Einübung der neuen Form bei. Ich bilde ferner ebenso unbewußt die zweite Person der Mehrzahl durch die wohlbekannte Endung "tet". Man könnte das richtige Analogiebildung nennen. Jedenfalls ist es schulmeisterlich, mein "belltet" nur in Verbindung mit sämtlichen anderen Konjugationsformen des Wortes bellen zusammenzudenken. Ich habe "belltet" als ein neues Wort neu geschaffen. Nicht nur außerhalb meines Bewußtseins, sondern auch außerhalb der lebendigen Sprache ist es, dass in alten Zeiten der Wortstamm (englisch: to bell) eine weitere Bedeutung hatte und auch "schreien, tönen" umfaßte; außerhalb meines Bewußtseins und außerhalb des Sprachlebens ist es, dass das b vielleicht durch psychologische Tätigkeit, die man jetzt Lautgesetze nennen will, aus bh (im Sanskrit heißt bellen bhas, reden bhâs) entstanden ist, wenn nicht umgekehrt. Und wer weiß, ob ich nicht in meiner tonlosen Aussprache der Endsilbe tet einen unendlich kleinen Teil zu der Übung beitrage, die heutzutage alle Welt die Endsilbe tet tonlos aussprechen läßt? Wer weiß, ob nicht einmal die zweite Person der Mehrzahl vom Imperfekt, ähnlich wie im Englischen, einfach "ihr bellte" oder "ihr bellt" lauten wird? Dann hätte ich jedesmal bei der Aussprache das heißt bei der Schöpfung eines analogen Wortes durch die psychologische Tat der Tonabschwächung eine winzige Handlung vollführt, die in der Wiederholung durch die Millionen von Landsleuten zu einem Formwandel führt, welcher nachher unter ein Lautgesetz subsumiert werden wird.
Wären die Lautgesetze nicht ebenso psychologischer Natur wie ihre Durchkreuzungen, so könnten sie allerdings blind und dumm in der Sprache walten, innerlich verwandte Formen trennen und fremde annähern. Es geschieht das wohl mitunter durch die Volksetymologie, die aber doch ein psychologischer Faktor ist. Wenn aber die Junggrammatiker lehren, dass die verheerende Wirkung der mechanischen Lautgesetze durch die sinnvollere Analogie aufgehalten werde, so scheinen sie mir die Entstehung der Sprachformen auf den Kopf zu stellen; eben weil damals, als die sogenannten Lautgesetze erstarrten, einzig und allein psychologische Vorgänge vorhanden waren, darum mußten von selber die angeblichen Ausnahmen entstehen, die man nun von außen her durch analogische Hemmungen erklärt. Auch die flüssige Lava strömt nur bergab, nur auf den Wegen, die die Natur ihr weist.