Verwandtschaft
Auch diese abstrakte Betrachtung führte uns dahin, wohin wir auch noch auf anderem Wege gelangen werden, dass wir nämlich nicht glauben, es lasse sich mit Hilfe der neuen vergleichenden Methode jemals eine natürliche Klassifikation aller Sprachen der Erde oder auch nur ein irgendwie wahrscheinlicher Stammbaum der indoeuropäischen Sprachen aufstellen. Läßt sich aus den sogenannten Lautgesetzen nichts erschließen, so auch nicht aus den Ähnlichkeiten, die erst durch diese Lautgesetze vermittelt werden. Achtet man auf den Gebrauch des Wortes "verwandt" in den älteren sprachwissenschaftlichen Schriften, so wird man das Wort immer bildlich angewendet finden, nicht viel anders wie dasselbe Wort zuerst in der modernen Chemie auftritt. Allmählich schlich sich jedoch die Vorstellung ein, dass solche Sprachen wirklich verwandt seien, was genau genommen ganz unmöglich ist. Sprachen, von denen die eine unbedingt von der anderen abstammt, wie z. B. die althochdeutsche und die neuhochdeutsche Sprache, sind ja gar nicht verwandt zu nennen; es ist vielmehr eine und dieselbe Sprache, genau so wie wir ja auch den dreijährigen und den gleichen fünfzigjährigen Menschen, die dreijährige und die gleiche fünfzigjährige Eiche nicht verwandt nennen. Wo eine Vermischung zweier Sprachen vorliegt, wie in den romanischen Sprachen und noch auffallender im Englischen, da wird das Bild von der Blutsverwandtschaft noch schiefer angewendet. Und bezüglich der Ähnlichkeit zwischen dem Slawischen und dem Griechischen ist es offenbare Willkür, eine unkontrollierbare Hypothese, wenn man von Verwandtschaft spricht und dabei, mit Zuhilfenahme irgend einer entfernteren Ursprache sich unter dieser Verwandtschaft doch etwas wie die Identität des Althochdeutschen und des Neuhochdeutschen vorstellt. Man sollte überall, wo Sprachgut auf ein jüngeres Geschlecht übergeht, von Erbschaft reden, nie von Verwandtschaft.
Die Lautgesetze der neuen vergleichenden Methode sind also keine Schlüssel für die wichtigen Fragen der Sprachwissenschaft, solange wir nicht wissen, welche Ursache der Lautwandel im einzelnen hat. Sind diese Ursachen, wie anzunehmen, unendlich komplizierter Art, gehen sie auf physiologische, auf klimatische Einflüsse zurück, spielen gar Zufallsunterschiede bei der Übernahme von Lehnworten mit, so ist es eine trügerische Hoffnung, in den Lautgesetzen jemals etwas anderes zu besitzen als eine übersichtliche Tabelle beobachteter Ähnlichkeiten, welche nicht das mindeste dafür beweisen, ob die ähnlichen Worte oder Wortelemente in letzter Instanz identisch sind durch sogenannte Verwandtschaft oder identisch durch gemeinsame Entlehnung, ob endlich analog durch Lehnübersetzung.
Einen so betrübenden Eindruck haben die Sprachwissenschaftler der Gegenwart von ihren Prinzipien nicht; mit bewußtem Stolze arbeiten sie bataillonsweise daran, die Hypothese von einer Verwandtschaft innerhalb der Sprachstämme und die weitere Hypothese von einer Verwandtschaft verschiedener Sprachstämme auszugestalten. Die Arbeiter auf diesem Felde sind, von dieser festen Idee einer Verwandtschaft unterjocht. Es scheint ihnen nur eine Frage der Zeit zu sein, z. B. auf dem Gebiete der indoeuropäischen Sprachen das ungeheure Sprachgut jeder einzelnen Sprache methodisch zu sammeln und bis auf die letzten literarischen Denkmäler historisch darzustellen, sodann aus diesem Material die Grundsprache oder gar die Grundsprache der Grundsprachen zu erschließen und so endlich dazu zu gelangen, dass wir für die indoeuropäischen Sprachen mit Sicherheit den Stammbaum ermitteln, dessen Existenz so allgemein vermutet wird und über dessen Gestaltung nur bis heute nichts Gewisses bekannt sein soll. Ungeheuer wie das Material ist der Scharfsinn, der an seine Bearbeitung gewandt wird; keiner der Forscher scheint zu begreifen, wie unsicher schon der erste Schritt ist, der über die lebendige Sprache und die Sprachdenkmäler hinausführt, und wie jeder weitere Schritt nur mit sich steigernder Unsicherheit gemacht werden kann. Die ersten Schritte können noch zu Hypothesen führen, die weiteren zu Phantastereien. Das Bewußtsein von dieser Sachlage haben die arbeitsamen Forscher kaum, wohl aber mitunter das Gefühl, für unbekannte Zwecke ihrer Wissenschaft ziellos und alexandrinisch auf irgend einem verlorenen Fleck mit Aufbietung aller Kräfte arbeiten zu müssen. Selbst Benfey (Geschichte der Sprachwissenschaft S. 565) hat diesem Gefühl der Resignation einmal ahnungslos-ahnungsvoll Ausdruck gegeben.
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