Steinthal
Eine Kritik Humboldts wird dadurch besonders erschwert, dass er eine so entsetzlich schöne Sprache schreibt; der Freund Schillers und Goethes will hinter ihnen nicht zurückstehen, wenn es ihm aber an der Rhetorik Schillers und an der unvergleichlichen Sinnlichkeit Goethes fehlt, so ist er nicht einmal streng im Gebrauch der Worte, was einem Sprachforscher kaum zu verzeihen ist. Alle Auslegungskünste seiner Schüler können die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, dass er gerade die wichtigen Begriffe, die er zuerst ahnungsvoll eingeführt bat, ohne Definition ließ, und zwar nicht, weil ihm die Definition selbstverständlich schien, sondern weil er in seinem eigenen Denken nicht fertig geworden war. Dazu kommt, dass gerade Humboldts Ahnungen den größten Zauber auf den Leser ausüben. Man kann es Steinthal gern glauben, wenn er in dem Vorwort zu seiner Ausgabe von Humboldts sprachphilosophischen Werken sagt: "Zu allen Zeiten war meine Achtung vor diesem Denker größer als meine Kritik, und größer als meine Achtung war meine Liebe zu ihm." Hier nimmt Steinthal die Kritik vollkommen zurück, welche er in viel jüngeren Jahren an Humboldt geübt hatte. Was immer die Veranlassung dieses Widerrufs gewesen sein mag (vielleicht das Bewußtsein, mit allem Scharfsinn und mit aller Klarheit doch nicht über Humboldt hinauszukommen), wir können Steinthals erste Kritik auch gegen ihn wieder aufnehmen, wo sie uns das Rechte getroffen zu haben scheint.
Steinthals achtungsvolle Kritik ist das Ergebnis jahrzehntelanger Beschäftigung mit Humboldts Schriften. Wenn man die offene Auseinandersetzung gelesen hat, wie sie in der "Charakteristik der hauptsächlichsten Typen des Sprachbaues" (S. 20 bis 75) enthalten ist, so erscheint einem der Rückzug in Steinthals Ausgabe der sprachphilosophischen Schriften wie ein Akt verzweifelnder Verlegenheit. In der "Charakteristik" kommt er zu dem Ergebnis, dass der Widerspruch zwischen Genie und Verstand bei Humboldt sich in jedem Punkte zeige, sich oft in einem und demselben Satze zusammendränge. "Ein solcher Satz mag ästhetisch schön geformt sein; logisch ist er falsch gegliedert und darum auch, rein an und für sich genommen, vollkommen unverständlich. Das Verständnis Humboldts schließt darum zugleich die Kritik desselben in sich. Denn ein solcher Satz wird eben nur dann verstanden, wenn man erkennt, was in demselben die Theorie, und was die Empirie hat sagen wollen, wirklich aber keine gesagt hat, weil jede die andere am Reden verhinderte" (S. 28). Scharfsinnig führt Steinthal nun aus, wie bei Humboldt die obersten Begriffe durcheinander schwanken; es wird die Sprache bald mit dem Geiste, der dann wieder als eine Gottheit nach dem Muster der Hegeischen Idee auftritt, gleichgestellt, bald kommt die Sprache von außen an den Geist heran. Insbesondere das Verhältnis zwischen dem Geist und der Sprache eines bestimmten Volkes kommt bei Humboldt nicht deutlich zum Ausdruck; bald ist der Volksgeist die Ursache und die Volkssprache die Wirkung, bald soll es sich umgekehrt verhalten. Der Anreger der Sprachphilosophie liebt selbst verschwommene Worte. Ein böses Beispiel ist es, wenn er (S. 48 der Einleitung) sagt: "Die Wahrheit ist, dass beide" (die intellektuelle Eigentümlichkeit der Völker und ihre Sprachen) "zugleich und in gegenseitiger Übereinstimmung aus unerreichbarer Tiefe des Gemüts hervorgehen." Da haben wir die Tiefe des Gemüts, das Asyl der Unwissenheit; man könnte sich heutzutage nur noch ironisch darauf berufen. All dieses Gerede über den Geist und die Sprache ist aber noch schlimmer, als es Steinthal darstellt, weil der Begriff Geist, wenn man genauer zusieht, immer wieder die Hülle für noch was anderes ist, der Fetisch, in dessen Innern sich ein Gott versteckt.