Bakterienkultur
Am 10. Oktober 1919 (in Worten: neunzehnhundertundneunzehn) wurde in Gleiwitz, Oberschlesien, ein Bootsmannsmaat von Offizieren verhaftet, die er nicht gegrüßt hatte. (Was er auch nicht nötig hatte.) Er wurde von den »Herren« angepöbelt, in einem Ton, der noch aus der großen Zeit stammte, auf die Wache gebracht, dort wiederholt beschimpft und beflegelt und schließlich von einigen Angestellten der dortigen Militärinnung blutig geschlagen. Von einer Untersuchung oder Bestrafung verlautet bisher nichts.
So darf das nicht weitergehen. Noske sollte für seine angegriffene Gehörkraft etwas tun – versteht er nicht, was immer wieder hier und von anderen gemeint ist? Bestreiten wir, dass Ordnung sein muß? Daß die Regierung eine Macht haben muß ? Gar nicht! Aber Herr Noske, der jetzt in der Nationalversammlung so erheblich für seinen recht großen Etat eingetreten ist, weiß nicht, dass er die Bakterien, die das Land verseucht haben, nicht ausrottet, sondern nur ein bißchen an dem Glas herumkratzt, in dem sie aufbewahrt sind. Er soll den Boden, auf dem sie gedeihen, nicht düngen. Er soll ihre Kultur vernichten!
Es ist nicht wahr, dass er heute noch Leute in seiner Reichswehr braucht, die sich ihm nur zur Verfügung gestellt haben, weil ihnen das Handwerk und das Gehalt Spaß machen und die – vor allem – politische Nebenabsichten haben. Wie wäre es, wenn einer zu ihm käme und sagte: »Gustav, ich bin zwar im Privatberuf Kommunist, aber zur Zeit stehe ich auf dem Boden der gegebenen Tatsachen, und da tue ich bei dir so ein bißchen mit.« Er würde ihn herausjagen, und das mit Recht!
Die Rechten aber behält er. Dieselben Männer, für die Disziplin gleichbedeutend mit Unterdrückung ist, dieselben, die die Deutschen heute noch in »Herren« und »Kerls« einteilen, dieselben, die – in Uniform oder nicht in Uniform – nur arbeiten können, wenn sie andere unterdrücken.
Das Land ist krank. Und Gustav ist ein schlechter Arzt.
Ignaz Wrobel
Berliner Volkszeitung, 02.11.1919.