Berliner Geselligkeiten
Wenn ich an den alten Fontane und sein Berlin denke, fällt mir immer Apfelsinensalat ein. Ich weiß nicht recht, warum – aber diese geschliffene Kristallschüssel mit den gelblichnassen Scheiben, ihr herber und doch harmloser Geschmack, dazwischen einige Apfelstücke, die artig und zuckrig darin umherschwammen: daran erinnert dieses Berlin, das längst vergangen ist.
Oh, wir hatten ein neues bekommen! Es blühte vor dem Kriege, gedieh und lärmte; es lärmte vielleicht mehr, als ihm und uns gut war. Und heute –? Heute, nach dem Kriege –?
Laßt uns einen Rückblick tun, lieben Freunde, und wir sehen mit Schrecken, dass die Satire und der Gesellschaftsspott der Stadt aus dem vorigen Frieden dahin sind. Hieb und Lob lassen uns heute fast kalt, muten uns an wie ein Märchen aus immer derselben Nacht. Aber sie sind nicht tot. Poppenberg ist dahingegangen, Rideamus ist heute so weit, dass ihn unsere Kinder in den Schullesebüchern lesen werden – ihre Stoffe aber leben, ihre Figuren sind noch da: ein Scheinleben.
Die Geselligkeit – ach, Oskar Bie, muß ich deine dicken entzückenden Bücher wälzen, um den Leuten noch einmal klarzumachen, was Geselligkeit ist? Die Geselligkeit ist ja nicht jene Summe von zartem Rehbraten, schwerem Burgunder, Importen, Tanz und Klatsch und jungen Mädchen, jungen Frauen und jungem Mittelalter – wenn es mit rechten Dingen zugeht, dann soll sie mehr sein. So, wie ein Verein nicht gleich der Summe seiner Mitglieder ist, sondern etwas neues, andres, Geheimnisvolles.
Die berliner Geselligkeit trennt aber heute nur noch eine oblatendünne Schicht von jener realen Summe: sie ist kaum mehr als diese.
Gib mir die Hand, eleganter Leser – du, schöne Leserin, warte züchtig in meinem Arbeitszimmer – ich will mich anziehen, und dann gehen wir weg. Ich habe noch meinen alten Frack. (Auf diesem »noch« beruht ein Drittel der berliner Gesellschaft.) Ich stürze mich in jenes Hemd, das schon so manchen Strauß erlebt, ich zaubere leicht hingehaucht den weißen Selbstbinder an den Kragen, ich besprenge mich mit ein wenig, ach, so wenig Lavendel – und ergreife den stumpfen Zylinder und, mit einer erhaben gleichgültigen Miene, meine Brieftasche, und dann steigen wir selbdritt in einen Wagen und fahren davon.
Und stellen beruhigt fest: es hat sich nichts geändert. Es sind dieselben Leute da, dieselben Gesichter wie vor dem Krieg, dieselben dekolletierten, ein wenig magern, ein wenig fetten Hälse – nur der Zug um den Mund bei den Herren ist schärfer und härter geworden, nur die Augen sind noch ein wenig unbeteiligter, jetzt, da es nicht ums Geldverdienen geht, gleichgültiger, kälter. Noch kälter …
Es ist viel Börse da, und du weißt also, in welchen Salons du dich befindest. Das ist eine ganz bestimmte Luft – die sich ja auch in Oberhof nicht verleugnet, in Westdeutschland nicht und nicht in Binz. Noch heute: alles ein wenig zu neu, zu laut, zu bunt, oder – sehr schick – zu diskret. Und erschreckend ungeistig. Ein »Salon« wie der Rahelsche ist heute in Berlin undenkbar, weil er augenblicks in Snobismus ausarten würde. Theater, das unerläßliche Kino, Ballett und Oper sind Themen, deren Variationen der Gewandte mühelos spielt – aber so, wie er auch aus der Fuge: Frau Bertelsheimer ist ihrem Manne nicht ganz treu – mühelos ein entzückendes Arpeggio heruntertändelt, dass die Tischnachbarin ganz beseligt lauscht … In einer alten berliner Sozialistenversammlung stand einmal ein Schutzmann auf und sagte gravitätisch: »Über Thema darf nicht gesprochen werden!« – Es wird in der berliner Gesellschaft ein bißchen viel über »Thema« gesprochen.
Und erschreckend ungeistig. Dabei waren wir wohl stehengeblieben. Der Magen des Kopfes ist groß: da geht Sudermann hinein und Hasenclever und Pfitzner und Gilbert – alles geht hinein, was gut und teuer ist und Erfolg hat. Erfolg muß es gehabt haben – sonst wirds nicht verdaut.
Und was machen wir, wenn wir das immer noch gute Diner oder schon wieder gute Diner gegessen haben? Wir stehen auf und warten, bis getanzt wird.
Sieh dir die Gesichter an –! Ein neuer Typ ist darunter, den es früher nur vereinzelt hier gab: der Kinotyp. Modebilder und Kinobeaux sind Ideale und Vorbilder; sie sagen: »So müßt ihr aussehen, junge Leute!« – Und sie sehen so aus, und sie wollen so aussehen, und sie können so aussehen. Glatt, eiskalt, elegant – aber nicht soigniert –, irgendwie immer ein wenig, ein ganz verteufelt klein wenig, an Friseur erinnernd. Fatal, wenn sich diese Marke mit geistigen Dingen befaßt, die sie verfälscht, für den bürgerlichen Gebrauch adaptiert, umlügt – aus dem Blut der andern sich eine sanfte Limonade quirlend … Und da tanzen sie.
Nun, sie tanzen schon viel, viel angenehmer als damals vor dem Kriege, als es durchaus noch nicht unpassend war, in der Gesellschaft zu »schieben«. Das ist vorbei. Man tanzt sehr ruhig – auch der Foxtrott wird vorbeigehen – man tanzt elegant, aber man tanzt nicht freudig. Die Damen vielleicht, die Herren tun ein Gesicht machen, wie als ob sie eine schwere Arbeit verrichteten. Sache –! Die Unmittelbarkeit ist beim Teufel, Kultur ist es noch nicht – das Ganze hängt zappelnd in der Mitte und weiß nicht genau, was es werden soll. Dünkt sich aber, eine Menge zu sein.
Unberührt davon ist jene preußische Geselligkeit, die wohlhabende Beamtenfamilien alten Stils noch immer pflegen. Da wimmelt es noch von Titeln – heute noch –, da herrscht noch eine subtile Rangordnung nach Anciennität, Dienstgrad und einer Stufenfolge, für die nur Frauen und sehr junge Regierungsassessoren das untrüglich richtige Gefühl haben. Dies ist noch Potsdam – leicht angekränkelt von Berlin, aber doch würdig, sehr selbstbewußt, gerade so ungeistig wie das andere auch –, aber doch im Grunde bedeutend sympathischer, weil es von einem Hauch Kultur überzogen ist.
Du blätterst in diesem Almanach, du siehst dir die bunten Puppen an, die der freundliche Illustrator in diesen Aufsatz hineingezeichnet hat – und du vermeinst, Peter Panter solle nur kräftig »die ätzende Lauge seines Spottes« über den berliner Geselligkeitsbetrieb ausgießen. Ach, man kann nur spotten, wenn Kultur prätendiert wird und keine da ist. Es ist keine da – aber sie pfeifen auf Kultur. Der ist da und die und der – und man weiß von denen, dass sie … und von denen, dass sie nicht … Werdet ihr nicht müde? – Sie sind wach wie je. Überwach. Und unverwüstlich.
Das ist aber so auffällig in Berlin: wie wenig der bürgerliche Gesellschaftskreis von angefaulten Dingen, von Bar und Nachtamüsement getrennt ist. Früher, zu Zeiten unserer Papas, gingen die Ehemänner, deren Frauen auf Reisen waren, und die jungen Herren zur Erholung und Entspannung aus der gutbürger-lichen Gesellschaft in die Bar. Heute haben sie das nicht mehr nötig. Die Bar im Haus erspart den Zimmermann.
Lockerung der Sitten ist kein Gewinn und kein Verlust – es fragt sich, was und wie sie gelockert werden. Bei uns wird gerissen. Es ist kaum noch Geheimnis um die Dinge (wie ja die Berlinerin überhaupt keine Geheimnisse hat, sondern eine rationelle Dame ist) – und während die alten Herrschaften ein département pour Cythère veranstalten, haben wir das nicht mehr nötig, weil wir ja die gelobte Insel in eine Achtzimmerwohnung verlegt haben. Aber das geht nicht, und darum gibt es in Berlin wenig ausgesprochenes Laster (welch ein Papierwort), und die ganze Welt und die halbe treffen sich genau in der Mitte und verstehen sich au fond recht gut miteinander.
Schade. Denn was die Geselligkeit im Haus verloren hat, hat sie außerhalb des Hauses nicht gewonnen.
Vielzitierte und oft geschilderte, in die Provinzzeitungen telegrafierte Nachtbars: werft mich einmal um! Ich bitte euch so: verdreht mir nur einmal den Kopf – aber nicht mit dem Preis von zehn Mark für einen Flip – macht mich einmal jung, lustig und töricht. Sie tuns nicht, dudeln ihre zuckersüßen Geigenwalzer weiter in die rauchige Luft und sind ein Geschäft. Ein kaltes, nicht immer reines, nichtsnutziges Geschäft.
Eine unterirdische Geselligkeit tobt sich in dieser Stadt aus. Die neue Regel besagt: Wo es nach halb zwölf Uhr hell ist, da ist nichts los; denn nach halb zwölf Uhr ist es nirgends hell. Aber wo es dunkel ist … da ist was los. Was denn?
Eine kaum unverhülltere Aphrodite als jene vor der Polizeistunde. Sollen die Paare auf den Tischen sitzen und mit den Beinen strampeln? Dazu sind wir viel zu fein. Das Risiko der Nachtlokale läßt die Preise in die Höhe schnellen – das Amüsement kaum. Werft mich um! Werft mich um! – Und ich kann lange bitten, und stehe nach wie vor auf meinen zwei Beinen.
Berlin ist nicht mehr Berlin, auch das gesellige nicht. Wir tun noch alle so, als wären wir die alten – aber es ist nicht wahr. Man bemüht sich krampfhaft, an die alten Formen und Vorstellungen anzuknüpfen – sie entgleiten einem unter den Händen, sind brüchig geworden, passen nicht mehr und stimmen nicht mehr. Es ist da ein neues Berlin, das erschreckend schnell herauf- und heranwächst, und niemand kann sagen, wie es aussehen wird. Es wird scheußlich aussehen.
Vor mir liegt – fleißig, wie ich mich habe – ein altes Buch: »Berlin und die Berliner. Leute. Dinge. Sitten, Winke.« Das Buch ist steinalt; es stammt aus dem Jahre 1905. Einen Verfasser hat es nicht; ich habe mal auf den verstorbenen Walter Turscinsky geraten – aber das wird wohl nicht stimmen. Es ist amüsant zu lesen, wie sich da schon ganz allmählich etwas herausgebildet hatte, das man beinahe berlinische Kultur zu nennen veranlaßt gewesen wäre – wenn man nicht genau wüßte, dass es so etwas in unserm Jahrhundert bisher wirklich nicht gegeben hat. Da steht nun alles aufgezeichnet, ironisch und mit jenem bissigen berliner Akzent, aber doch immerhin: was man tue und nicht tue, welche Gesichter man und wann man sie schneide, wie man den tituliere und den, wie man schreibe, gehe, fahre, Tennis spiele, in Premieren die Logen bevölkere – dahin, dahin! – Denn man kann heutzutage alles auch ebensogut ganz anders machen – und das ist das Gegenteil von Kultur.
Schadet es dir heute, wenn du in Henny Porten verliebt bist? Nein. (Dein Dienstmädchen ist es auch.) Schadet es dir, wenn du als Salonbolschewist verkleidet einhergepoltert kommst? Gar nicht. Schadet es, wenn du Fulda liebst? Nein. Darfst du expressionistische Revolutionäre schätzen? Ja. Darfst du einen schwarzen Schlips zum Frack … Erlauben Sie mal! Wir haben doch Kultur!
Zeichne, Zeichner, zeichne! Zeichne die kleinen Mädchen, die ausgeführt werden und sich ausführen lassen, zeichne die Damen, die ins Opernhaus fahren und gut in der Loge wirken, solange sie sitzen, zeichne die Tänzerinnen, die aussehen wie Damen, und die Damen, die nicht so aussehen, und die sich beide wenig unterscheiden, zeichne die Gesellschaftsleute, die sich am Tage angestrengt haben und das des Nachts weiter tun, zeichne, zeichne! Zeichne die Herren undefinierbaren Alters, die jung aussehen wollen und es auch durchsetzen, und zeichne die Gesichter der zweiten Generation, die so schrecklich gern mit zweiundzwanzig Jahren Papas Habitus aufweisen möchte und es auch durchsetzt; zeichne die Mamas, die mit einem Erlösungsseufzer in den Fauteuil sinken, wenn die letzte Tochter glücklich verlobt ist – Kinderarzt, gute Praxis, wenig Vorleben, bescheidene Ansprüche – zeichne den Mann, der immer Geld hat – warum, keine Ahnung, wie? – und den, der immer keins hat – (und die sich beide wenig unterscheiden) – zeichne, zeichne! Und so hübsch du zeichnen wirst und so genau du beobachtest, so nervös und so klar, so prickelnd und so beschaulich –: du wirst diesen berliner Ton von Gefühlskälte nicht erreichen, diese unbedingte Unbeteiligtheit an allen Dingen, diese Kälte, die keine Blasiertheit, sondern Schwäche ist. Zeichne, zeichne!
Und du, Leserin? Bist du mir böse –? Habe ich unrecht getan? Ist Berlin anders? Bin ich nur ein fetter, unzufriedener, literarisch angehauchter junger Mann, der hinten heruntergefallen ist und die sauren Trauben schilt? Spotte nicht! Erstens ist fett sein keine körperliche Eigenschaft, sondern eine Weltanschauung, und zweitens: der zopfigste Stil hamburger Kreise ist diesem da vorzuziehen. Wir entwickeln uns, gewiß – aber frage nicht, wohin, Leserin. Kennst du es anders?
Du bist gereist. Ja, du bist gereist – aber du hast – einer Zauberin gleich – jene Luftschicht mit dir genommen, die ich dir hier vormalte, und die dich umgab wie eine Glaskugel. Du kennst es nicht anders. Komm in die deutschen Städte, geh nach Genf, geh nach Rußland, wo es noch heil ist, geh nach Budapest … Ah, da sind Flecke und manches so ganz anders, wie man es sich wünschte. Aber Leben ist da, meine Liebe, und manchmal – verzeih das harte Wort – Kultur. Nur freilich: man muß sie aufzusuchen verstehen und nur sich, und nicht diese Stadt, im Koffer mitbringen.
Das hast du gelesen, und die Saison ist auf ihrer Höhe, du blätterst und rauchst eine Zigarette und wunderst dich, was es wohl für wunderliche Männer auf der Welt gibt. Gib mir deine Hand. Ich will sie dir sehr lange und ernsthaft küssen, gar nicht so, wie man sonst in Berlin jemandem die Hand küßt – innerlich widerstrebend oder für den Fotografen. Ganz, ganz anders.
Und erlaube, dass ich mich verbeuge und entlaß mich – denn du gehst jetzt wahrscheinlich in eine Gesellschaft und wirst um dich sehen. Hat Peter Panter gelogen –?
Peter Panter
Beitrag für: Zirkus Berlin.
Hg. v. Lothar Brieger und Hanns Steiner,
Almanach Verlag, Berlin (1919), S. 71.