Die lebendigen Toten
Ich bleibe dabei: nur eine gute Kinderstube gibt uns Fonds fürs Leben.
Baron Frimmel, Oberleutnant Berghammer – aber in Zivil – und ich – wir gingen einmal im Prater spazieren. Eigentlich kein Spaziergang, sondern ein Gewaltmarsch zum Zweck des Lokalwechsels – drei Uhr früh – und wir hielten einander um die Schultern gefaßt, um nicht den Anstrengungen des Tages zu erliegen.
Drei Uhr früh. Frimmel hatte eine Dogge mit, Berghammer einen Gummiknüppel und ich etwas Jiu-Jitsu.
Hierauf wurden wir verhaftet, weil der Raseurgehilfe Kamillo Lendecke (ledig, katholisch, Novaragasse 26) mehrfache Verletzungen davongetragen hatte.
Vom Moment der Verhaftung an hatten wir kein Wort miteinander gewechselt.
Trotzdem sagten wir, einzeln befragt, übereinstimmend aus. Lendecke habe sich, unserm gütlichen Zureden zum Trotz, mit dem Kopf in einen Zaun von Stacheldraht gelegt.
Die drei identischen, mit ruhiger Sicherheit vorgetragenen Aussagen bewirkten denn auch unsre Freilassung.
Und wir hatten uns doch gar nicht verabreden können.
War auch nicht nötig. Was ein taktvoller Mensch ist, wird sich in jeder noch so diffizilen Lebenslage richtig zu benehmen wissen.
Roda Roda
Cause fameuse im Großen Schwurgerichtssaal: Mordprozeß in Sachen Liebknecht und Rosa Luxemburg. Die Anklagebank gesteckt voll: acht Offiziere und ein Mann, aber was für einer! Das Bild, das unser frechster und bester Karikaturist George Grosz von dem Husaren Runge gezeichnet hat, ist eine Schmeichelei, der Mann sieht noch viel übler aus: kleine schiefe Augen, eine niedrige Stirn, roh und ungeschlacht. Die Herren daneben – sie befinden sich in der besten Gesellschaft – die üblichen Offiziersgesichter: Köpfe, wie man sie auf Sekt- und Zigarettenplakaten zu sehen pflegt. Die Marineoffiziere meist brav und stumpf, mit Ausnahme von Pflugk-Harttung, der so gescheit aussieht, wie er sich später benimmt. Es geht los.
Die Angeklagten werden vernommen. Runge legt Pathos und bieder vibrierenden Schmerz in seine Stimme: als er der Luxemburg und Liebknechts ansichtig geworden sei, habe ihn eine solche Wut über sein zertretenes Vaterland erfaßt.. Auch habe Liebknecht, ihm, dem Dreher Runge, früher einmal eine Pistole auf die Brust gesetzt, mit der Drohung, wenn er noch weiter arbeiten würde … Die Offiziere »weisen die Anklage aufs schärfste zurück«. Die Pflugk-Harttungs (es sind zwei Brüder) am gewandtesten, Vogel und Weller am ungeschicktesten. Vogel ist eine Katastrophe für jede Monarchie, so dumm benimmt sich der Mann. Er gibt zu, falsche Angaben gemacht zu haben, »um die Division nicht zu kompromittieren«. Weller tapst durch die Materie, als sei es ein Kinospaß und kein Mordprozeß. Stolz steht er da im strahlenden Schmucke seiner Orden, versehen mit viel Vaterlandsliebe und einer leeren Revolvertasche … Die Zeugen fahren auf …
Aber was wird denn hier gespielt? Eine Tragödie? Rache und Sühne? Kaum, höchstens deren fünfter Akt. Vier Akte, vier lange, dunkle Akte sind vorhergegangen, und man kann nur vage ahnen, was in ihnen geschehen, und vor allem, was nicht geschehen ist.
Geschehen ist dies: Die wilmersdorfer Bürgerwehr, brave Einwohner einer westlichen berliner Gemeinde, die am übelsten und reaktionärsten von allen regiert wird, gründeten in den bewegten Revolutionstagen des Januar einen kleinen Feuerwehrverein zur Aufrechterhaltung gottgewollter Abhängigkeiten und begaben sich – ohne einen Auftrag, ohne einen Befehl, ja ohne das geringste Recht dazu zu haben – in die Wohnung, in der sich damals grade Liebknecht und Rosa Luxemburg aufhielten. Sie verhafteten beide. Das war ungesetzlich. Es ist notwendig, darauf hinzuweisen, weil sich unsre Ordnungshüter, denen Ordnung über die Freiheit geht, nicht genug mit Gesetzeszitaten aufspielen können und sich gar so sehr über den Doktor Kurt Rosenfeld erbosen, der ein Revolutionstribunal für diesen Fall gefordert hat. Die Angeklagten dürften ihrem ordentlichen Richter nicht entzogen werden, sagen die Leute. Aber er soll, meine Geehrten, seinem außerordentlichen Richter entzogen werden! Dies hier ist ein Kriegsgericht, zusammengesetzt aus Kameraden der Angeklagten. Und es tut nicht gut, nun beständig mit den Anschauungen zu wechseln: einmal heißt es, wir hätten eben Revolution gehabt – so muß die ungesetzliche Verhaftung erklärt werden – und einmal heißt es wieder, es müsse alles laufen wie im tiefsten Frieden. Hier klafft ein Widerspruch.
Liebknecht und Rosa Luxemburg also wurden verhaftet, ins Eden-Hotel gebracht, und aus diesem Paradies sollten sie ins Gefängnis transportiert werden. Liebknecht wurde unterwegs erschossen, Rosa Luxemburg kam abhanden und fiel in den Landwehrkanal. Während ich dies schreibe, ist das Verfahren noch nicht abgeschlossen. Die Dinge stehen so, daß im Falle Liebknecht außer den üblichen kleinen Disziplinarvergehen nicht viel herausspringen wird – non liquet. Im Falle Luxemburg hat Vogel den großen Unbekannten eingeführt, der, von hinten auf den Wagen aufspringend, die von Kolbenschlägen Runges Halbtote erschoß – die Herren warfen sie, die ihnen zum Transport übergeben worden war, ins Wasser. Der Fall liegt also wesentlich schwerer, und es besteht die Wahrscheinlichkeit, dass das Gericht hier zu einer Verurteilung gelangen wird.
Denn das Gericht ist des besten Willens voll. Der Verhandlungsleiter ist ein sympathischer jüngerer Mann, der mit viel Takt und Umsicht arbeitet, wenn ihm auch hier und da einige Suggestionsfragen durchrutschen. Aber was nutzt das alles?
Ich bin des trocknen Tones nun satt, und es soll einmal gesagt werden, was zu sagen bitter not tut:
Wir pfeifen auf ein solches Verfahren. Wir kennen nun alle, meist aus eigner Anschauung, die Schliche und armseligen Pfiffe dieses Militarismus, der sich hinter die Maske der tadellos korrekten ›Meldung‹ verkriecht, nachdem er seine Schiebungen inszeniert hat. So, wie damals auf die Angaben Vogels hin die gesamte deutsche Presse über den Hergang bei der Ermordung belegen worden ist, so kann es diesmal wieder gehen – wer garantiert uns, dass nicht wieder bei den Angeklagten ›Zweckmäßigkeitsgründe‹ maßgebend sind? Wir lassen uns nicht dadurch fangen, daß uns gesagt wird, »zwei gewählte Vertrauensleute der Garde-Kavallerie-Schützen-Division« säßen unter den Richtern. Wer beim Militär gewesen ist, weiß, wie Wahlen zustande kommen – man denke nur an die berüchtigten Küchenkommissionen. Und wenn sie selbst richtig und ordentlich gewählt sind: sind sie nicht befangen? Sind nicht ihre Kameraden, die Angeklagten, tausendmal in der oppositionellen Presse auf das heftigste angegriffen worden? Wer ist denn heute noch Soldat? Die Besten sinds nicht, die da Unterkommen und Arbeitsersatz suchen, und die Idealisten auch nicht. Und die sollen richten? Man nennt das: In eigner Sache.
Die Formation urteilt über sich selbst. Man stelle sich doch nicht das, was wir hier meinen, so ungeheuer plump und simpel vor: gewiß ist der untersuchende Kriegsgerichtsrat nicht nachts beim Schein einer düster qualmenden Lampe zu den Angeklagten in den Kerker geschlichen und hat ihnen dort kleine Zettel zugesteckt! Gewiß hat keiner das Stubenmädchen bestochen, das gehört haben wollte, wie ein Offizier gesagt hat: »Die Herren werden unten im Tiergarten erwartet, um Liebknecht zu begrüßen« – gewiß hat keiner den Jäger gemeuchelt, der gesehen hat, wie Vogel auf Frau Luxemburg schoß. So einfach ist das nicht. Aber diese unwägbaren Dinge, die da mitsprechen, geben den Ausschlag: die Formulierung eines Protokolls, der Verzicht auf diesen oder jenen Zeugen, die lange Zeit, die verstrich – am 15. Januar wurden die beiden ermordet, am 15. April wurde der Beschluß zur Hauptverhandlung ausgesprochen. Umsonst sind die Mitglieder der USPD, über deren Mitwirkung bei der Voruntersuchung sich der Verteidiger so sehr entrüstete, nicht zurückgetreten. Sie hatten das Gefühl, mit dem großen Krummen zu kämpfen, dem noch jeder unterlegen ist, der ihm nicht mit seinen eigenen Waffen zu Leibe ging: mit schärfster Rücksichtslosigkeit.
Es sind zwei Welten, die da zusammenstoßen, und es gibt keine Brücke. Hüben wir. Drüben die Offiziere alten und ältesten Stils – kein Klang der aufgeregten Zeit drang je in diese Einsamkeit. Von Liebknecht wird nur als dem ›Feind‹ gesprochen; einer bedauert, dass er nicht unter der schimpfenden Menge gestanden habe und nur Begleitmann war – sie leben wie in einer Glaskugel.
Der Verhandlungsleiter war – von seinem Standpunkt aus mit Recht – bestrebt, die Politik bei dem Verfahren auszuschalten. Aber es geht nicht. Sie hatten alle, alle den politischen dolus eventualis. Die Luft, die im Gerichtssaal wehte, war für sie und gegen Liebknecht. Und käme heute wieder solche Gelegenheit – sie täten es noch einmal: sie würden schießen und ertränken und verheimlichen und stünden da als die Retter des Vaterlandes. Ihres Vaterlandes, denn unsres ist das nicht.
Ist das nur ein Einzelfall? Nein, es ist keiner. Der Militarismus ist nicht tot, er ist nur verhindert. Die kümmerlichen Reste verkriechen sich in die Noskegarden, die deshalb so unendlich schädlich sind, weil da unter der neuen Flagge die alten Ideale hochgehalten werden. Da ist wieder dieser falsche Kollektivgeist, der ›die Division‹, diesen fabelhaften Begriff, höher stellt als alles Menschliche – da ist die Schiebung, aber immer unter der Tünche der Korrektheit –, da ist die alte, schlechte Gesinnung, die wir nicht mehr wollen. Eben das lehnen wir ab und werden es bekämpfen, bis keine Spur mehr davon vorhanden ist: den Zusammenschluß einer Gruppe von Menschen als Staat im Staate, das Pochen auf den angeblich makellosen Ehrenschild, dessen beschmutzte Kehrseite wir alle kennen, das Über- und Unterordnen von lebenden Menschen, die nicht fähig sind, zusammenzuarbeiten – kurz: Kasernenhof.
Es gibt keine Brücke. Sind es nicht alles nette und ordentliche Menschen? War der Verhandlungsführer nicht sauber? Sind es nicht alle brave, ehrenhafte Männer? Es sind nicht einmal Männer, diese Offiziere, die eine wehrlose Frau und einen verwundeten Mann in maiorem patriae gloriam beseitigen. Ich glaube nicht, dass das unter die Rubrik ›Tapferkeit‹ fällt.
Nichts gleichgültiger als das Urteil. Blut kann nicht durch Blut gesühnt werden, das ist ein Wahn. Was wir aber können und was wir tun werden, ist dieses:
Wir wollen bis zum letzten Atemzuge dafür kämpfen, dass diese Brut nicht wieder hochkommt. Wir wollen ebenso konsequent sein wie sie und nicht vergessen: Eulenburg nicht, der nicht im Zuchthaus sitzt, weil er ein Fürst ist, den Grafen Arco nicht, der Eisner erschoß, und diese Herren nicht, die sich nur einmal in ihrem Leben mit einem gewöhnlichen Mann ganz verstanden haben: auf der Anklagebank.
Es ist völlig uninteressant, zu wissen, ob Noske im guten Glauben handelt oder im schlechten. Er ist ein Schädling, denn schlimmer als die exploitierenden Reichen sind ihre Handlanger, schlimmer als der Großbauer ist sein Hund. Der Helm muß und wird heruntergeschlagen werden.
Hetzen wir? Sind wir nicht sachlich genug? Nur einmal noch, nur dieses eine Mal noch erlaubt mir, dass mein Herzblut spricht, und nicht das Gehirn. Das soll euch werden: die kälteste und klarste Sachlichkeit. Aber dieses Mal nicht. Aus ihren Gräbern rufen zwei Tote. Ihr könnt die Schreie nicht hören, denn ihr seid taub. Wir aber hören sie. Und vergessen sie nicht. Was da in dem großen Saal unter dem Bildnis ›Seines‹ glorreichen Großvaters, Kaiser Wilhelms des Großen, vor sich gegangen ist, ist in unsre Herzen eingebrannt. Und eben, weil alle feinen Leute noch für den letzten Verbrecher und Rohling eintreten, wenn er nur Liebknecht totschlägt, und eben weil die schlechtesten Deutschen aufatmeten, als zwei Idealisten ermordet wurden, eben deshalb bewahren wir unsre Trauer und unsern Schmerz und vergessen nicht.
Die drüben kleben zusammen wie die Kletten – wir sind aneinander geschmiedet durch das Gedächtnis an Eisner und seine Brüder. An unsre Brüder. Und haben weder Zeit noch Lust, euren dicken Aktenbänden zu folgen, euren Plädoyers und euren Proklamationen. Das Ding liegt so: da steht der Militarismus, da stehen wir. Und weil die Welt nicht in Staaten, wohl aber in Fortstrebende und Zurückzerrende zerfällt, müßt ihr beiseite gehen, in voller Uniform, in Feldbinde, Ordensschmuck und Helm. Und was die Toten rufen, ruft unser Herz: Ecrasez l'infâme!
Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 15.05.1919, Nr. 21, S. 564.