Im Saal
Es ist immer dasselbe Bild, und es kommt einem nun schon bekannt vor: auf der Anklagebank irgendein gleichgültiges Leutnantsgesicht, Offiziere in Breeches und Monokel und steil abfallenden Hinterköpfen. Der Vorsitzende aus dem berüchtigten Vogel-Prozeß ist da; auf der Zeugenbank jener Oberst Reinhard. Vor der Tür des großen Schwurgerichtssaales stauen sich die Zeugen; unter ihnen jener einzige Überlebende, der Zeuge Lewin, der stundenlang blutend unter den Leichen lag und sich tot stellte … Er zeigt seine tiefe Schußwunde im Unterarm. Eine Erinnerung fürs Leben. Eine Erinnerung woran –?
Es muß jetzt einmal gesagt werden, dass es so unter keinen Umständen weitergehen darf und weitergehen kann. Ich habe seit den Januartagen wohl alle politischen Prozesse dieser Art besucht: ich habe die schlechte Luft dieser Säle geatmet, und was ich hier ausspreche, sage ich nicht für mich, sondern in der Gesinnung aller anständig gesinnten Politiker. Es ist nicht verständlich, wie Noske schon aus Anstandsgründen nicht seine Entlassung eingereicht hat. Das hat gar nichts mit Politik zu tun, was da vorgegangen ist. Hier sind elementare Menschheitspflichten verletzt worden.
Eine Bewegung ging durch den Zuhörerraum, als einer der vernommenen Offiziere – Leutnant Wehmeyer – die zynische Äußerung wiedergibt: Oberst Reinhard habe sowieso nicht gewußt, was er mit den ganzen Gefangenen beginnen solle! Also der Mord als Wohnungsfrage! Das ist neu. Das ist originell. Und eröffnet freundliche Aussichten für die Zukunft.
Die Vernehmungen gehen ihren Gang. Die Verteidigung ist nicht ungeschickt damit befaßt, die Verantwortung auf die andern abzuwälzen. Mit am schwersten belastet scheint der Hauptmann v. Kessel. Urkundenfälschung bei Ausgabe der Pässe? Hilfeleistung zur Flucht? Begünstigung? Falsche Dienstmeldungen? Herr von Kessel macht im gegebenen Augenblick von dem Recht der Zeugnisverweigerung Gebrauch – der Vorsitzende arbeitet lange nicht klar genug heraus, dass er es tut, weil er sich mit strafbar gemacht hat. Und das ist inzwischen zum Hauptmann befördert worden (der Mann war früher, zur Zeit des Mordes, Oberleutnant) – das steht bei der Sicherheitswehr, die ihn in ihrem Offizierkorps duldet. Aus Aussagen und Auftreten dieses Offiziers geht hervor, daß die Sicherheitswehr, entgegen den Behauptungen des Ministers Heine, eine durchaus militärische Institution ist.
Und eine Äußerung nach der anderen fällt – so schnell kann kein Stenograph kritzeln – eine nach der andern, und aus allen zusammen geht hervor, mit welch teuflisch kalter Roheit dieser Mord vonstatten gegangen ist. Die Anklage geht nicht auf Mord – ohne Überlegung habe Marloh, heißt es, die Leute in den Hof herunterführen lassen, wo man sie abschoß wie die Hirschbullen. Ohne Überlegung … Aber der schlimmste Zuhälter hat mehr Impuls und mehr menschliche Gefühle, wenn er ein Ding ›mit's Messer‹ dreht, als diese Kollektivität von Offizieren. Daß sie sich selbst nicht wohl dabei fühlten, geht aus der intensiven Nacharbeit hervor, die sofort einsetzte, nachdem alles vorüber war. Mit Hilfe zweier Staatsanwälte, die beide nicht dabei waren, als man die unschuldigen, waffenlosen Menschen zusammenschoß, werden drei Berichte in die Welt gesandt. Der zweite gefällt dem Obersten Reinhard nicht; ein Offizier fährt spazieren und holt sie alle wieder zusammen, und man ›macht‹ einen neuen. Die unbequemen Berichte werden unterschlagen und sind verschwunden … Und das Gericht?
Das Gericht geht diesen Spuren nicht in genügendem Maße nach. Es wäre für einen geschickten Dialektiker bei einiger Aktenkenntnis ein Leichtes, die dünnen Stellen auf dem Eis aufzuzeigen – aber das ist nicht nötig.
Ich habe aufmerksam zugehört und sage unter vollem Bewußtsein meiner Verantwortung: Dieses Gerichtsverfahren!! Darf die Militärjustiz, die es ermöglicht hat, noch einen Tag länger existieren?
Statt die ganze Gesellschaft einzusperren, hat man sie ein halbes Jahr untereinander konspirieren lassen, hat ihnen erlaubt, sich zu verständigen, und hat ihnen eine bequeme Verteidigungsmöglichkeit gegeben. Die Richter, Kameraden des Angeklagten, die der Anklagevertreter nur deshalb nicht ablehnen kann, weil er selber einer ist. Ist das auch im Interesse der Allgemeinheit?
Und bevor ich gehe, sehe ich mir diesen unbedeutenden, kurzstirnigen Offizier da in der Anklagebank an, und seine Genossen, die ihn decken bis zum äußersten. Und ich denke an den Münchener Geiselmord, und an das Hallo der Presse – und wie dies hier doch viel schlimmer ist.
Das sauber gesinnte demokratische Bürgertum täte gut, sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, daß es auch ohne einen so maßlos kompromittierten Minister wie Noske geht und dass wir bei seinem Abgang, der nun eine Frage der Zeit sein dürfte, nicht gleich dem Bolschewismus in die Arme fallen.
Wir sind hier immer für Ruhe und Ordnung eingetreten und tun es heute noch. Aber man erlaube uns – ohne parteipolitische Erwägungen – einen Mörder einen Mörder zu nennen. Dreihundert gingen in die Menschenfalle: zweiunddreißig blieben zuckend und zerschossen auf dem Hof. (Ob nur auf dem Hof, wird sich heute zeigen.) Keiner will es gewesen sein. Die Kollektivität trägt die Verantwortung. Aber schuldig sind sie alle.
Die Verhandlung wird für heute geschlossen.
Und die Strafe?
Und die Strafe?
Ignaz Wrobel
Berliner Volkszeitung, 05.12.1919.