Justitia
Wir vermissen die bewußte Tendenz in der deutschen Rechtsprechung. Justitia hat eine Binde vor den Augen, gewiß, aber soll ohne Ansehen der Person und der Sache verhandelt werden? Ohne Ansehen der Folgen?
Als in den Jahren, da man die Schnurrbartspitzen recht gesträubt und die Gesinnung kantig gebügelt trug, die bewußte Tendenz der deutschen Gerichte zutage trat, Majestätsbeleidigungen oder was man dafür ansah, recht hart zu strafen, ereiferten sich sittliches Empfinden und Satire heftig dagegen. Gegen diese Tendenz oder überhaupt gegen das Auftreten einer Tendenz im Gerichtssaal? Die Meinungen waren geteilt, und die Sache ist ja mit dem fehlenden Objekt nun abgetan. Aber ich weiß nicht, ob es geraten ist, sich gegen jede Tendenz, die bei den Gerichten auftaucht, zur Wehr zu setzen.
Es soll, lehrt die Ethik, der einzelne Fall in Betracht gezogen werden – es sollen die Motive, vor allem die sozialer Art, sorgfältig abgewogen werden, und dann erst soll der Urteilsspruch erfolgen.
Aber damit räumt man dem Menschen eine ungeheuerliche Macht ein, über den Menschen zu richten. Damit wird der Richter zum rächenden und strafenden Gott, und es ist zu bezweifeln, ob ein Erdgeborener, und der preußische Beamte alten Stils insbesondere, dazu berufen und geeignet ist. Mein ist die Rache, spricht der Herr …
»Also Abschreckungstheorie«, sagte das erste Semester. Das erste Semester weiß das alles ganz genau, und ich besinne mich sehr gut, dass ich die Welt nie besser verstand als in diesen jungen Jahren, da man so göttlich klug und weise war. Nachher wurden die Dinge wesentlich komplizierter … In der Tat: Abschreckungstheorie – oder, weil das besser klingt und auch der Sache, die nun erörtert werden soll, näher kommt: Erziehungstheorie. Wir haben keine pädagogische Rechtsprechung.
Ein Urteil, das nicht bekannt wird, hat seinen wahren Zweck verfehlt. Nun braucht nicht jedes Urteil durch den Trommler im Städtchen verkündet zu werden (und das wird ja auch bei dem Fabrikbetrieb in den großen Städten, wo die Schornsteine der Justiz tagaus, tagein rauchen, nicht gut durchzuführen sein) – aber die Tendenz, selbst die fehlende Tendenz, spricht sich heute schon herum und beeinflußt das Tun der Menschen, soweit das solchen Einflüssen zugänglich ist. Wir wissen und tadeln zum Beispiel alle, dass deutsche Gerichte Kindermißhandlungen manchmal so unbegreiflich milde bestrafen, dass man Tiere so gut wie ungestraft quälen darf und dass grober Vertrauensbruch und Diebstahl öffentlichen Eigentums nicht zu den Dingen gehören, die gleich den Kopf kosten. Die Tendenz fehlt hier überall, sie wird bewußt ausgeschaltet, und unbekümmert um die Folgen solcher Urteile prüfen die Richter den Fall und urteilen gewiß nach bestem Wissen und Gewissen.
Sie sollen nun nicht Plakat-Urteile fällen. Auch bilde ich mir nicht ein, dass soziale Motive durch die Aussicht auf strenge Bestrafung aus der Welt geschafft werden können – wer Hunger hat, stiehlt, auch wenn er dafür ins Zuchthaus kommt. Aber es gibt da Nuancen, Zwischengebiete; was wir vermissen, ist der einheitliche Zug, die bewußten Grundsätze, die durch die deutsche Rechtsprechung gehen sollten. Vom einzelnen aus betrachtet, ist es so etwas wie eine Art Paragraphen-Lotterie …
Denn der vielbeschäftigte Richter wird ja niemals die Kenntnis der Motive ganz ausschöpfen. Er wird ja niemals – das göttliche Richtschwert in Händen – den Mann, der da vor ihm steht, voll ausdeuten und niemals erklären können, warum er so und nicht anders handelte. Und wovon dann, seine lauterste Einsicht angenommen, der Urteilsspruch abhängen kann, das hat Tolstoi im ersten Kapitel der »Auferstehung«, in dem die Richter wie aus Glas erscheinen, genugsam dargetan. Damit ist es also nicht allzuviel.
Die Wirkung aber solcher Rechtsprechung im Volke ist verheerend. Unsicher tappend, weiß keiner, welche Handlung schlecht, welche gut sei. Freispruch und Verurteilung jagen einander, bei scheinbar gleichen Umständen: das eine Mal stammte der Angeklagte von einer belasteten Mutter ab, das andere Mal hatte er vielleicht alle fünf Sinne beisammen, aber einen dolus zuwenig. Und die Hemmung, die einzige, die den Verbrecher überhaupt abhalten könnte: die Angst vor Strafe, wird zum schemenhaften Gefühl vor irgendeiner Unbequemlichkeit, die aber schon erträglich auslaufen werde.
Wir vermissen die feste Hand, die das Richtschwert führt. Wir wollen, dass – um Beispiele herauszugreifen – Kindermißhandlungen, Bedrohung des Lebens, grobe Vertrauensbrüche Gerissener, über die es nur ein Urteil im deutschen Volke gibt, besonders scharf bestraft werden. Zwei–, dreimal, zwanzigmal, dreißigmal – es hilft.
Sagt nicht, der Mensch dürfe nicht zum Mittel herabgewürdigt werden. Es ist wichtiger, dass einer büßt, damit Tausende die Gesellschaft verschonen. Es geht nicht an, dass dem Dieb zugute gehalten wird, die Bestohlene hätte das Portemonnaie nicht verschlossen – damit bekommt die Verschmitztheit im öffentlichen Verkehr einen Freibrief. Gerade weil er das ausgenutzt hat, soll er doppelt gestraft werden.
Für die bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten lassen sich ähnliche Grundsätze aufstellen: die Bauernfängerei der Schieber In den großen Städten findet immer noch viel zu sehr Rückhalt an einer Justiz, die achselzuckend erklärt, sie sähe zwar den betrügerischen Dreh … aber der § 138, der den Verstoß gegen die guten Sitten behandelt, sei nicht gut anwendbar … Sie scheuen davor zurück.
Wir verlangen vom deutschen Richter dies: er bemesse die Strafen bei Delikten, die ihm dazu geeignet erscheinen, nicht so sehr nach dem Grundsatz der Vergeltung, sondern er verhänge sie, um das deutsche Volk zu erziehen; alle wissen, dass bei nachgewiesenem Mord die Todesstrafe eintritt – alle sollen auch wissen, dass bei Roheitsdelikten und ähnlichen Verbrechen mit deutschen Gerichten nicht zu spaßen ist.
Augenblicklich kann ein niedriger Mensch mit geringerer Strafe davonkommen als einer, der strauchelnd fehlte.
Wir erwarten von unseren deutschen Richtern mehr, anderes, Großes. Sie in erster Linie sind dazu berufen, das Volk praktisch, durch Anwendung und Bestärkung der sittlichen Grundsätze zu erziehen, die dann erst ins Reale treten. Aber es ist schließlich nicht damit getan, von einem Stand etwas zu fordern. Erwarten wir etwas von unseren Richtern, so müssen wir sie hoch bewerten. Und nur daran ist zu sehen, in welchem Maß ein Volk seine Richter wertet: wie es sie bezahlt. Ein plumpes Wort für eine große Sache. Aber schließlich ist alle Kritik hinfällig, wenn die unbedingte Integrität, die der Richter haben muß und bis jetzt hatte, nicht unterstützt wird von einem auskömmlichen und reichlichen Gehalt, das ein gesichertes Leben bewirkt und die schärfste Auswahl und Siebung unter der Masse der Andrängenden erlaubt. Assessoren warten heute acht Jahre und länger auf feste Anstellung – so gedeiht keine bewegliche Arbeitsfreudigkeit. Das muß anders werden. Erst dann, wenn die Regierung ihre Justizbeamten nicht nur gut bezahlt, sondern sorgenfrei stellt, werden unsere deutschen Richter ganz das sein können, was sie zu unser aller Heil sein müssen: weitausschauende und tatkräftige Erzieher ihres Volkes!
Ignaz Wrobel
Berliner Tageblatt, 14.01.1919, Nr. 11, S. 2.