Macchiavelli
Als 1914 England dem Deutschen Reich den Krieg erklärte, warf das urplötzlich politisierte, bis dahin literarische Deutschland sämtliche ethischen Vokabeln, deren es habhaft werden konnte, über den Kanal. Es war die Zeit, als das ›perfide Albion‹ ›Krämerseelen‹ beherbergte, die nichts von der Tiefe des deutschen Gemütes ahnten. Das zog nicht, und man schickte sich an – um auf keinen Fall den Ereignissen nachzuhinken –, die aus der Mode gekommene Ethik unter den Ladentisch zu legen und dafür zu sagen: Nur die Kraft machts. Die Kraft, das war: ethoslose Politik, Nützlichkeitsprinzip, Macchiavelli.
Die Bestrebungen, den Deutschen klar zu machen, dass in der Politik nicht Treu und Glauben, sondern nur und allein das Interesse des Landes mitzusprechen habe, mußten notwendigerweise zu einer Ausgrabung führen, die Josef Hofmiller jetzt (im Verlag von Phil-ipp Reclam junior) besorgt hat: Fichtes Schrift ›Inwiefern Macchiavellis Politik auch noch auf unsre Zeiten Anwendung habe‹.
Die Grundsätze dieser uralten Lehre sind bekannt: »daß, seit die Welt steht und solange sie stehen wird, seit es Reiche gibt, und solange Reiche sein werden, es auch nur eine einzige große Politik gegeben hat, die man die Politik Bismarcks nennen mag oder die Politik Friedrichs des Zweiten, römische oder englische: die Politik Macchiavellis. Daß es unmöglich, dass es Selbstmord ist, diese Politik durch ›Humanität, Liberalität, Popularität‹ abwehren zu wollen, zu glauben, man könne ihrer durch Kultur Herr werden oder durch Ethik oder andre schöne Gegenstände aus dem Vorlesungsverzeichnis der philosophischen Fakultät.«
Es steht dahin, ob man das kann. Nicht aber darf man: Politik mit Ethik versalzen. Nicht darf man, was uns so starke Feindschaft eingetragen hat: einen Nützlichkeitsstandpunkt je nach Bedarf mit hohen Phrasen der so verachteten Ethik bemänteln. Seinen graden Weg für sein Land gehen, über Leichen, über zerstörtes Glück, über Menschen ist eines; und nach der Lehre seines Gottes leben und dabei kümmerlich leben, ist ein andres. Die Ethik aber vorschieben, wenn es mit der Gewalt nicht geht; und die Wolfsklaue aus dem Schafspelz stecken: das zu tun sei uns versagt.
Es ist eine Unsauberkeit, kleine praktische Büchelchen, wie ›Der sicherste Weg zum Erfolg‹ oder ›Wie werde ich energisch?‹, mit der Sittenlehre zu vermengen. Sehen wir aber näher zu, so geschieht dies in der quälenden Angst, nur ja nicht hinter der Zeit zurückzubleiben. Als die Ethik noch billig zu haben war, als es noch nichts kostete, von seinen Mitmenschen Transzendentales zu fordern, waren sie alle eifrig dabei, es zu tun. Aber ausgelacht werden? Aber sich sagen lassen müssen: Wie denn? Deine Lehre stimmt nicht! Sieh auf den Krieg! – dazu hatten die Brachialethiker keinen Mut. Denn es hätte Mut dazu gehört, zu sagen: Meine Lehre ist schon richtig. Aber die Welt geht falsch. Welch Pathos gehört dazu, dergleichen zu sagen! Und wie wenig bringt es ein!
Es war also viel bequemer, den Macchiavelli hervorzuholen, gestärkt durch Fichte, einen Philosophen, der sein eigenes Nest gut kennen mußte, wenn er von seiner Morallehre sagt: Alles schön und gut. Aber wenns ernst wird, hört sie auf! – Ach, dann fängt sie grade an.
Das ist keine Ethik, der eine höhere Idee – die des Staates – übergeordnet ist. Das ist keine Ethik, die sich mit den Landesfarben anstreichen läßt.
Das ist keine Politik, die nicht den Mut hat, frisch und frank zur Gewalt und nur zur Gewalt zu greifen, sondern die die Ethik wieder braucht, sie mißbraucht. »Entweder will das Volk sich die Herrschaft des Gesetzes überhaupt noch nicht gefallen lassen … so ist in diesem Fall Krieg zwischen dem Fürsten selbst und dem Volke … und der Fürst erhält, da ja schlechthin, und ob es dem Volke gefalle oder nicht, Gesetzmäßigkeit und Friede sein soll, in diesem Falle das göttliche Recht des Krieges gegen ein solches Volk … « Schlechthin? Und das göttliche Recht? Also doch Kultur und Christentum und Gott und Recht? Nicht doch, laßt das Recht aus dem Falschspiel. Politik ist eine Sache, und Recht ist eine – aber noch schließen sie einander aus.
Es muß zu einer Verschmutzung unsrer Sitten führen, wenn dergleichen öffentlich gelehrt wird. Habt ihr nicht mehr den Mut, das Ideal zu fordern, als sei es erreichbar? Sagt ihr gleich der Menge: Wir fehlen doch, wozu noch streben? Laßt uns schon am ersten Tage sündige Menschen sein. Es ist in diesem Kriege das bittere Wort von dem Moratorium der Bergpredigt gefallen; wir können sie aber nicht außer Kraft setzen, mit rückwirkender Kraft vom ersten August 1914. Man glaubt, oder man glaubt nicht. Und es ist diese fromme Unbedingtheit, die bisher alles geschaffen hat, was man Zivilisation und Kultur zu nennen gewöhnt war; wer aber kuhhandelt, der ist kein Priester der Wahrheit.
Er ist nicht einmal ein Politiker. Glaubt denn Hofmiller, dass auch nur einmal in diesem Kriege ein Deutscher durch ethische Motive gehindert gewesen ist, etwas zu tun, was uns hätte nützen können? Wer einmal in der Etappe gearbeitet hat, weiß, warum der deutsche Verwaltungsoffizier manchmal unbegreiflicherweise zögert, zuzupacken. Die Bibel? Die Ethik? Kompetenzstreitigkeit und Scheu vor vermehrter Arbeit und Furcht, sich mit der vorgesetzten Dienststelle zu entzweien, alles, alles – nur keine moralischen Bedenken. Gegen wen oder an wen richtet sich also die Mahnung, nur ja nicht dem Irrlicht der Sittenlehre zu folgen?
Die Mahnung vergiftet uns, wenn es so fortgeht, wenn es den Neudeutschen gelingt, »Imponderabilien der öffentlichen Meinung langsam zu schaffen und sie so lange geduldig und unermüdlich zu verstärken, bis das erhoffte und herbeigerufene günstige Geschick sie mit voller Wucht als Ponderabilien in die Waagschale der Entscheidung wirft« – wenn das gelingt, welchem Verbrecher ist es verwehrt, sich auf diese eigenartige moralische Lehre zu berufen?
Wir verdammen diese Politik nicht, weil sie unsittlich ist. Mag sie unsittlich sein, mag sie angewandt werden, weil sie zum Erfolge führt – aber sie ist Politik und nur Politik. Hell leuchtet gegen diesen dunkeln Fleck ein strahlender Stern. Kein ›schöner Gegenstand aus dem Vorlesungsverzeichnis der philosophischen Fakultät‹, der Schopenhauer das ihrige besorgt hat. Einer leuchtet dagegen, der unbedingt war, so unbedingt, dass die Pharisäer vor ihm erschraken, einer, für den Erfolg nicht in Frage kam und nicht Geltung und nicht Macht. » … Indem ein Mann, der in allen Umständen gut sein wollte, unter der Menge derer, die nicht gut sind, notwendig zugrunde gehen müßte.« Und Christus hing am Kreuz. Warum hatte er auch den Macchiavelli nicht gelesen!
Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 17.10.1918, Nr. 42, S. 357.