Die genialen Syphilitiker
Was in des viel zu früh verstorbnen Christian Bry ›Verkappten Religionen‹ so gut auseinandergesetzt ist: die Überwertigkeit von Teilgebieten in den Gehirnen der Lebensreformer: das macht den deutschen Bildungsspießer so unerträglich. Die Humorlosigkeit, mit der er – jeder einzelne ein Fachmann, Gottseidank! – dasitzt, wenn sein Kram dran ist, die Überheblichkeit, die aus jedem Fachwort spricht, die Wichtigkeit, die alles der Vereinsidee einordnen möchte und nur übersieht, dass die Welt nicht von Gabelsberger, Prohibition, Frauenstimmrecht und Pazifismus her zu begreifen und zu verändern ist –: alle diese Steinchen zusammen ergeben das Mosaik des ›gebildeten‹ Kaffern, der, in Deutschland, auch noch die Seele eines Schulmeisters in sich trägt. Unfähig, etwas zu sehn, ohne Zensuren zu geben, teilt er sie auch dann aus, wenn ihn keiner darum gebeten hat, ein lästiger Besserwisser, kein Gutwisser; kein Mann, ein Fachmann; einer, der mit seiner Zeit geht, Gott hab ihn selig.
»Das Leben der Menschheit hat – im Lichte der Ewigkeit – keinen Sinn, solange es die Syphilis gibt.« Und: »Der Geist der Menschheit wird syphilisfrei sein oder er wird nicht sein.« Na, na? Was hätten wir denn da? Das sind Anfang und Ende eines Büchleins ›Die genialen Syphilitiker‹ von Brunold Springer (im Verlag der Neuen Generation, Berlin-Nikolassee). Dem wollen wir einmal eine kleine Blutprobe entnehmen.
Seine geschichtliche Darstellung der Krankheit ist außerordentlich fesselnd; sie wäre es noch mehr, wenn das ein Arzt geschrieben hätte, der wirklich Bescheid weiß. Man muß über Springern, der zum Beispiel von sich gibt: »Der Absolutismus ist die Ausschweifung. Die Ausschweifung ist die Syphilis« – man muß über Springern hinweglesen, der Stoff verlohnt das. Wie entsetzlich diese Krankheit eingesetzt hat, wie sie im sechzehnten Jahrhundert in Europa wütete so wie später nur noch bei Naturvölkern, die sie mit dem Christentum und dem Schnaps frei ins Haus geliefert bekamen; wie sie grauenhafte Symptome von heute ungekannter Wucht zeitigte, wie die Ansteckung durch ein Nichts erfolgte, durch einen Hauch – wie die Krankheit dann wellenförmig stieg und fiel, bis auf den heutigen Tag, wo eine gewisse Degeneration der Spirochäten festzustellen ist, heute, wo eine ganze Hautklinik zusammengetrommelt wird, wenn ein Tertiärfall hereinkommt: den staunen sie dann an, wie eben einen Tertiärmenschen. Übrigens steht das alles nicht so bei Springer. Der weiß nichts von der seltsamen Pause, die etwa in Deutschland zur Zeit zu beobachten ist, der spricht verächtlich von Salvarsan, was man wohl nur tun sollte, wenn man wirklich klinisch damit gearbeitet hat – statt guter Statistiken lesen wir verquetschte Lyrik, die mit der Realität bizarr zusammenstößt. (»Man muß dem Gorgohaupt in die Augen sehn. Die Syphilis beginnt mit der Bildung eines harten Knotens (Schanker) an der Stelle der Ansteckung.«)
Was dann folgt, ist eine recht gescheite und erfreulich offne Auseinandersetzung über die Maßregeln zur Verhütung der Syphilis. Wenn es auch in den großen Städten nicht so liegt, dass »die Kundwerdung der Lustseuche in fast allen Fällen der bürgerliche Tod
ist«, so haftet ja tatsächlich auch heute noch der Krankheit ein Makel an, der sie herrlich gedeihen läßt. Das ist vor allem die Schuld der Kirche.
Der gradezu verruchte Gedanke, dass der außereheliche Geschlechtsverkehr eine Sünde sei und Gott die Syphilis als Zuchtrute gesandt habe, ist rein katholischen Ursprungs. Es ist immer wieder das Zentrum gewesen, das eine gesunde und anständige Aufklärung der Kinder in den Schulen verhindert hat, und das Wenige, das auf diesem Gebiet überhaupt erreicht worden ist, wurde gegen diese Partei durchgesetzt. Vor ganz kurzer Zeit ist ja, unter gänzlicher Teilnahmlosigkeit der Nation, ein Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten durchgegangen, das noch zu betrachten sein wird: die Schande des Listenwahlsystems ließ die besten Vorkämpfer gegen die Seuche dabei kaum zu Wort kommen. Der lächerliche Zufallsbrei, den da Beamte, parlamentarische Wichtigtuer und Duckmäuser zusammenkochen, heißt nachher Gesetz und wird einer mächtigen Bürokratie willkommner Anlaß sein, auch weiterhin auf den schafsgeduldigen Deutschen herumzuregieren. Erfolg? Schade, dass Spirochäten so selten lachen.
Richtig und gut ist, was Springer über die Grundsätze dieser Bekämpfung sagt: statt überall Automaten mit billigen Schutzmitteln aufzustellen, statt die Behandlung möglichst kostenlos zu ermöglichen, was freilich hinter dem Bau von Schlachtschiffen an Wichtigkeit zurücksteht, mogelt auch hier der Staat ganz wacker. § 270 des Entwurfs zum neuen Strafgesetz bedroht öffentliche Ankündigung oder Ausstellung einer »zu unzüchtigem Gebrauche bestimmten Sache« mit Gefängnis bis zu zwei Jahren, eine glatte Konzession an die katholische Lüge von der Unzüchtigkeit des Geschlechtsverkehrs. Da kann sich die Kirche auf das Reichsgericht verlassen.
So weit also gut und schön. Aber schon in diesen Kapiteln des Buches fällt eine kindliche Ausschließlichkeit der Ideen auf; man kann eben nichts ›ausrotten‹, radikal beseitigen, das Leben ist stärker … Und nun werden die Geschichtshelden durchgehechelt. Das ist allerdings bitter.
Wenn man sich schon einen ganzen Korb voller Namen hernimmt und aufzeigt, dass alle diese Leute: Napoleon und E. Th. A. Hoffmann und Beethoven und Lenau und Schopenhauer und Schumann und Lassalle und Gauguin und Lenin und Manet Syphilitiker waren: dann muß man das anders machen.
Zunächst einmal sind die Behauptungen miserabel dokumentiert. Bei Lenin steht, gleichzeitig für die Krankheit Wilsons, als Quelle in der Anmerkung: » ›Schweizer Frauenblatt‹ vom 9. Februar 1924«, und dann wirds ja wohl stimmen; von Léon Daudet weiß Springer nachweisbar nichts und benutzt eine politische Schilderung aus diesen Blättern, um ein paar spießige Sätze über eine Familie zu sagen, die denn doch mehr Fingerspitze verdient … die gesamte Dokumentation des Buches ist mehr als kläglich. Entweder oder. Schweigen oder alles sagen. Aber dazu muß man freilich etwas wissen.
Angenommen aber, dass die Klassifikation der Leute stimmt: von welcher Froschperspektive her ist das gemacht! Der Fußtritt, den der alte Schopenhauer einem Kritiker ausgeteilt hätte, der von ihm sagt: »Welch schöner Beweis ist er selbst gegen seine Lehre von der Unveränderlichkeit des Charakters« – dieser Fußtritt wäre nur mit dem jenes Maultiers bei Daudet père zu vergleichen, das sich diese Rache sieben Jahre aufbewahrt. Von Manet: »Bei den kranken Malern erhält sich meistens ein Rest ihrer Fertigkeit, ihrer Hand, so dass sie nicht ganz ihrem Schaffen entzogen werden; so hat auch Manet noch in der Zeit seiner Krankheit sehenswerte Blumenstilleben gemalt, während andrerseits Hans Makart, sein Kunst- und Leidensgenosse, sogleich nach Ausbruch seiner Krankheit den Pinsel sinken lassen mußte.« Herzlichen Glückwunsch.
Bei Maupassant wird die meisterhafte Novelle ›Le Horla‹ als »Sinnestäuschung« rubriziert, und: »Lenins Nachtseite ist durch die Krankheit entschuldigt«, so dass von einer Bestrafung dieses Schülers noch einmal abgesehn werden kann. Napoleon aber erhält eine Stunde Nachbleiben: er ist »herzlos, übergeräuschvoll« und »ein Aktionsepileptiker«. Und muß nun wahrscheinlich dreißigmal abschreiben: »Ich soll nicht so viel Geräusch machen.«
So sieht die Welt natürlich nicht aus. Es ist erlaubt, über die Krankheit Heinrich Heines zu schreiben; dann muß man das mit der genauen Kenntnis des Materials tun: des medizinischen und des dichterischen. Denn der Unfug, der heute in der Literatur durch zeugende Eunuchen getrieben wird, die, viel zu unfähig, auch nur eine Figur selbständig zu erfinden, dem Fridericus-Rummel mit literarischer Rückversicherung Konzessionen machen, die Pfoten an der alten Fahne, das eine Auge im Parkett, das andre seitwärts zur Kritik: gewandt und so stolz darauf, Gneisenau heroisch aufzufassen oder gar anders als es das Abiturium vorschreibt: dieser Wachsfiguren-Unfug wird nur noch von den falschen Fachleuten übertroffen, die die gesamte Historie auf Homosexualität oder auf Psychoanalyse oder auf Geschlechtskrankheiten untersuchen.
Der hier kennt nicht einmal seinen Stoff. Sonst hätte er einen der größten deutschen Dichter zitiert, einen, der zerfressen worden ist und gesiegt hat, einen, der den wildesten Fluch in die Hölle des Himmels geschleudert hat, weil ihm dort eine Krankheit erfunden schien, die die Menschheit ›erlösungsfähig‹ hielt. Von dem weiß Brunold Springer, der Verfasser eines ›Schlüssels zu Goethes Liebesleben‹ nichts. Panizzas ›Liebeskonzil‹, in dem jener Fluch eingemeißelt steht, ist verboten, und wir werden nun alles mögliche bekommen: ein katholisch gefärbtes Schulgesetz, ein Reichskonkordat, aber niemals einen Kulturkampf und niemals wieder dieses Buch. Mein Exemplar steht in Frankreich, und ich bin bei ihm und streichle das grüne Pergament und blättre in den gelblichen Seiten. Der da hat einen erfundnen Gott gelästert, und er hat wohl daran getan, für Millionen, die stumm gemacht sind.
Die Untersuchung Springers aber ist die Schreibe eines eifervollen Aufklärers mit Einjährig-Freiwilligem-Zeugnis, weißem Wohnungsberechtigungsschein und einer garantiert fortschrittlichen Weltanschauung. Geistiger Wassermann: positiv negativ.
Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 08.02.1927, Nr. 6, S. 210.