Komm, erschein auf dem Balkone
Eine Serenade? Das ist, wenn einer unten steht und spielt Leier und bekommt einen Topf auf den Kopf gegossen. Aber so hat es nicht angefangen, und die Serenade ist einmal eine sehr ernsthafte Sache gewesen.
Das lateinische und katholische Ideal von der Frau setzte jedes weibliche Geschöpf aus guter Familie hinter die Gitterstäbe der Vorurteile, so wie heute noch in Spanien der Verlobte mit seiner Braut vor der Heirat niemals allein sein kann, denn das wäre unschicklich. (In guten südamerikanischen Familien ist das ähnlich.) Was blieb also den armen Liebhabern anders übrig, als abends vor den Fenstern des eingesperrten Liebchens mit einem Saiteninstrument anzutreten und, wie bei Offenbach, zu singen:
»Komm, erschein auf dem Balkone!«
Was heute Operngeste geworden ist, war damals klingender Ernst und manchmal blutiger Ernst: denn wenn der Behüter der jungfräulichen Ehre das kleine Nachtliedchen übelnahm, dann konnte es wohl geschehen, dass sich über der sechssaitigen Gitarre die Klingen kreuzten und mit Tod endete, was mit Gesang begonnen hatte. Konnte der Liebhaber nicht anders zu der Seinigen gelangen, so warf er eine glitzernde Strickleiter aus Tönen vom Garten her an ihr Fenster, und seine hochachtungsvolle Verehrung klomm empor: in Kantilenen, Läufen, Arpeggien und vielen kleinen und großen Serenaden, die wie bunte Kugelbälle in der Nacht vor dem Haus auf- und abstiegen …
Als die Zeit bürgerlicher wurde, die Maschen der Vorurteile weiter und die Entfernungen zwischen den Menschen und Ständen enger, da bekam die Serenade einen sanftkomischen Anstrich. Man sang sie gewissermaßen zwischen Anführungsstrichen und mit jenem heimlichen Zwinkern, das da andeutete: »So ernst meinen wir es ja gar nicht!« Nun war es mehr eine sanft bürgerliche Aufmerksamkeit, die der Liebsten dargeboten wurde, wie ein Blumenstrauß oder ein Pfund Konfekt; denn eben diese Liebste brauchte nicht die Strickleiter zu benutzen, um herunterzuklettern, sondern konnte, wenn auch unter gütiger Aufsicht der Mama, die Treppe des Hauses heruntergehen und mit dem Musikanten ein halbes Stündchen im Garten plaudern, wobei ja nicht unbedingt gesprochen werden mußte.
Immerhin hat diese Saiteninstrumente besonders in Deutschland eine Art Romantik umweht, die vom Süden herüberkam; ihre Musik wehte wie in einem warmen Wind heran, und den lauschenden Mädchen mochte immer so etwas wie eine Art Ritter, Entführer und Don Juan vorschweben. Sie schlossen die Augen und wollten gerne vergessen, dass es nur ein großherzoglicher Rentamtskonzipient war, der da unten im Garten »Laurentia, liebe Laurentia mein« trillerte. Das verblichene Seidenband der Gitarre hing wohl noch lange Zeit in der guten Stube des Ehepaares, bis sich die Motten darüber hermachten …
Das ist übrigens auch schon ziemlich lange her. Heute ist zur Serenade in dieser Form kein Platz, kein Anlaß, keine Zeit und keine Ruhe. Es gibt eine Serenade, die auch heute dargebracht wird. Aber das geht so vor sich, dass sich Hella oben anzieht und natürlich nicht zur Zeit fertig geworden ist (es gibt keine Frauen, die zur Zeit fertig werden), und dass Bert mit dem Wagen vor der Tür wartet und nun ungeduldig in die volle Hupe kneift und singt ihre Serenade »Tatü«.
Das hört Hellachen im dritten Stock und beeilt sich nun noch mehr und wirft noch mehr Pomadentöpfe und Schminkstifte durcheinander und wird noch viel später fertig … und unten bläst der Liebhaber immerzu seine Serenade.
Eine Serenade? Aber selbst, wenn der große Überlandwagen keinen Lautsprecher aufstellt, der die Insassen an einem lauen Sommerabend erfreut, so gibt es ja noch einen anderen Apparat, mit dem sich herrlich Serenaden darbringen lassen: das Telefon. Oder ist es vielleicht keine zarte und sinnige Aufmerksamkeit, die Geliebte nachts um zwei Uhr noch einmal aus dem Schlaf zu klingeln, von Nachttisch zu Nachttisch, um ihr das Wichtigste mitzuteilen, das es im Augenglick gibt – dafür Nachtverbindung, dumpfes Rauschen in der Muschel, Erwartung, nächtliche Stille, Zirpen des elektrischen Stromes und dann schließlich eine verschlafene Stimme. Und nun die wichtige Mitteilung, die nicht länger aufgeschoben werden konnte:
»Habe ich dir eigentlich schon erzählt, dass die Verlobung von Luz auseinandergegangen ist?« Auch das ist eine Serenade; denn es gibt manchmal Augenblicke, wo es nicht so sehr darauf ankommt, was einer sagt – als dass er spricht.
Zur Serenade, zur Nachtmusik im alten Sinne gehört die abendliche Stille der kleinen Stadt und das Verklingen der Glocken und das Schwirren der letzten Falter und des ersten Nachtgetiers und das Aufrauschen der Bäume – in der Geisbergstraße zu Berlin ist so etwas viel schwieriger herzustellen.
»Die Blas-Abendmusik« des Leipziger Stadtpfeifers Petzel liegt verstaubt in den Bibliotheken, und was sich Milchen und Franz abends durchs Fenster mitteilen, dürfte eine Verabredung fürs Kino sein, das den Liebenden, die sich im Dunklen die Hand drücken, eine Serenade im Bild und im Orchester zeigt.
Und was früher in vierstrophigen Kanzonetten dargebracht wurde, mit langsam aufklingendem Vorspiel und Läufen und sacht absterbendem Saitengesäusel, das erledigt sich heute, vom Auto heraufgerufen, schneller, exakter, sachlicher, eine gesprochene Serenade.
– »Lucy?« – »Ja?« – »Kommste mit?« – »Wohin?« – »Ins Große Schauspielhaus?« – »Was 'n da?« – »Wie einst im Mai!« – »Wer spielt mit?« – »Alfred Braun!« – »Gemacht!«
Die Serenade, das ist sozusagen immer die Ouvertüre gewesen. Die Ouvertüre zu einer ewigen Oper, wie manche zur Liebe sagen. Es hat große Künstler der Ouvertüre gegeben, die nachher beim Stück versagten. Manche haben die Serenade schlecht gesungen, aber sich dann behauptet. Es ist darüber gespottet worden, und imposante Szenen sind entstanden. Wer soll schließlich urteilen? Der Liebhaber! Die Minnesänger sind anderer Meinung gewesen als die Chauffeure. Die pathetischen Sänger haben oft die Liebe geringer geachtet als deren Kunst. Der Liebhaber 1927 hat oft recht kunstlos geliebt.
Man könnte der Meinung sein, dass die Frauen auch ein Wort mitzureden haben. Sie sind oft genug besungen worden, ohne befragt zu sein. Doch niemals hat sich ein Liebhaber lächerlich gemacht, vielleicht ist er belächelt worden. Aber oben auf dem Balkon des Schlosses oder des Miethauses in Lichterfelde hat sich durch Jahrhunderte hindurch ein kleiner lächelnder Stolz gezeigt, wenn nicht der der Liebe, so dieser: gerufen zu sein bei diesem einzigen Namen, der niemals wiederkehrt.
Peter Panter
Funkstunde, 15.05.1927, Nr. 20, S. 610.