Larissa Reissner
Die ist in ihrem eignen Saft gekocht. Wir haben so viel alte Weiber unter den Journalisten – eine so kluge, eine so kräftige war noch nicht dabei. Ihre ausgewählten Schriften liegen nun unter dem Titel ›Oktober‹ im Neuen Deutschen Verlag zu Berlin vor.
Im Inhaltsverzeichnis fehlt zunächst ›Hamburg auf den Barrikaden‹, das ein ungerechtfertigtes und politisches Edikt der Republik unter Zuhilfenahme einer sogenannten Justiz dem legalen Verkauf entzogen hat. Ich besitze das Buch und schätze es als eins der besten Revolutionsdokumente, das so ganz nebenbei eine Meisterschilderung Hamburgs enthält, das Paradigma eines Städtebildes, etwas ganz und gar Einzigartiges. Die Konfiskation dieser Broschüre nützt natürlich, wie alle derartigen Kindereien, zum Glück wenig. Und im ›Oktober‹ bleibt noch reichlich genug Schönes.
Nach einer sehr guten Vorrede Radeks fängt es mit der ›Roten Front‹ an, einer Schilderung der russischen Revolution aus den Jahren 1918 und 1919. Schon hier fällt etwas auf, das so selten anzutreffen ist: Larissa Reissner sah zugleich das Nahe und das Ferne. Ihre aus dem Kampf mitgebrachten Fotos sind ganz klar, scharf bis in die letzte Baumspitze (»Der Kommandeur spuckt ärgerlich in seine verwundete Handfläche«); es ist jener Naturalismus Tolstois, der noch in Todeskrämpfen sehen läßt, dass der operierende Arzt sein Zigarrenstummelchen, um es nicht mit Blut zu beflecken, zwischen dem Daumen und dem Ringfinger geklemmt hält. So nahe kriecht die Reissner an die Gegenstände heran, saugt sie in sich auf und fühlt besonders das dynamische Spiel scheinbar toten Materials. »Einzelne Wagen stehn zu zweit, zu dritt, weit voneinander entfernt. Es ist, als wenn sie miteinander spielten. Als wenn man sich nur abzuwenden brauchte, damit sie wieder weiterlaufen, um dann, beim ersten Blick, den man ihnen zuwirft, wie überrascht in ungeschickten Stellungen stehn zu bleiben.«
Da ist die Szene, wo sie aus Zufall, aus unverschämtem Glück einem weißen Offizier entwischt. Das ist in seinem dramatischen Aufbau großartig. Sie spielt alle Register: so, wenn sie von den weißen Offizieren sagt: »Mein Gott, wie gut war das weiße Regime am dritten Tage seiner Schöpfung! Wie wohltuend wirken die bescheiden zur Schau getragnen Merkmale der Geisteskultur auf dem Tuche der Beamten und Militärs; Merkmale der wahren Aufklärung und Bildung. Wie kokett schimmern seine akademischen Abzeichen, wie wohltuend wirken sie auf die allgemeine Atmosphäre!« Solcher Bilder gibt es Hunderte, und was wichtiger ist: man versteht Heroismus, Pathos und Größe jener einzigartigen Epoche. Natürlich kann man einwenden, dass ja auch auf der andern Seite solche Soldaten, solche Kerls und solche Männer standen – aber ich glaube nicht, dass die so von einer Idee durchblutet waren, wie diese hier.
Die Skizzen aus Afghanistan, im Jahre 1920 entstanden, zeigen das große Format einer Internationale, wie sie in amsterdamer Gewerkschaftskreisen weniger bekannt sein dürfte. Folgen die Schilderungen aus russischen Bergwerken ›Im Lande des Platins‹, aus denen man nun einmal wirklich lernen kann, wieviel Opfermut, wieviel Kühnheit und wieviel Größe in jenem Lande vorhanden war, von dem der gepflegte Kulturdichter Rudolf G. Binding im Kriege geschrieben hat: »Rußland bietet in diesen Tagen ein Bild,
das sich immer wiederholen wird. Pöbel ist immer arrogant. Er bemächtigt sich der Herrschaft ohne das geringste Bedenken, aber auch ohne die leiseste Fähigkeit zu herrschen. Winkelanwälte, Winkeladvokaten, Bankrotteure auf allen Gebieten sind die Führer, und Unwissenheit, Dünkel und Größenwahn sitzen zusammen zu Tisch.« So weit der verhinderte Generalstabsoffizier mit der gebügelten Seele. Ach, wie wäre jener heute mit den Russen zufrieden! Ich wünschte, er wäre es nicht.
Eine wie große Journalistin aber die Reissner gewesen ist, können wir Deutsche ganz genau beurteilen, weil wirs nämlich kontrollieren können. ›Im Lande Hindenburgs‹ spielt bei uns. Hier sind wir sachverständig, hier leben wir, sie ist eine Fremde, nun soll sie zeigen, was sie kann. Sie kann.
Die große Arbeit über ›Junkers‹ ist in diesen Blättern erschienen und noch gut in Erinnerung; wie da positives Material, Zeitnotizen, Indiskretion und prägnante Beobachtung ineinander verbunden sind, das macht dieser Frau keiner nach. Dann das stärkste Kapitel aus diesem Werk ›Im Lager der Armut‹. Das ist nun allerdings ein großer Überlandmotor, der da läuft, ein gigantisches Kraftwerk von Haß gegen die Unterdrücker und Liebe zu den Unterdrückten.
Von Armen, die in einer alten Kaserne biwakieren dürfen: »Aus Angst und im Bestreben, das feindselige Haus, dessen Wände jedes Wort, jeden Schritt laut und ausdruckslos wiederholen, zu bestechen, wäscht die Frau des Schusters jeden Tag den endlos langen Korridor auf. Sie tut es, um mit dieser Wohnung in gute Beziehung zu treten; sie gibt der Kaserne einen Vorschuß menschlicher Wärme, die diese Mauern gleichgültig hinnehmen, wie ein Unteroffizier das Geschenk eines Rekruten. Nachts lassen sich die gemalten Adler von der Decke herunter, schleichen sich in den Hof und durchwühlen die Müllgrube nach Überresten, die die Hühner des Schusters übersehn haben. Sie tauchen ihre rissigen, mit dem spärlichen Gefieder des Kaiserreichs geschmückten Glatzen tief in den schmutzigen Abfall hinein.«
Folgt Frau Fritzke, eine Frau, die in Ermanglung eines andern sich selbst verkauft hat. So; »Die Liebeserfahrung hat auf ihrem Gesicht große, graue Säcke abgelagert. Während des Krieges verlor Frau Fritzke ihren Mann. Jeder verkauft, was er hat. Hunderte von Händen knutschten und rissen seit der Witwenschaft ihre Brüste, wie man an dem Spülhahn in der Toilette reißt. Das trug nicht zu ihrer Schönheit bei.« Davon weiß Külz wieder nichts. Aber diese zwei Druckseiten sind eine erschütternde Schilderung proletarischer Prostitution. Folgt ›Das eiserne Kreuz‹, folgen ›Die Pantoffeln‹, und dann etwas, von dem ich nie begriffen habe, wie ein Fremder es hat schreiben können. Aber es ist eben kein Fremder, der es geschrieben hat, es ist die Freundin des internationalen Proletariats, gleich ausgebeutet in allen Ländern, gleich belogen von den Aktuaren und Brillenmenschen der aus ihm entstiegnen kleinen Bourgeoisie, gleich verraten und verkauft von den Hermann Müllers an die wahren Mächte dieser Erde. Das Kapitel, von dem ich hier spreche, heißt: ›Er, Kommunist – Sie, Katholikin‹. Es schildert das Leben einer kleinen Familie, deren Ernährer arbeitslos wird. Die Frau macht die Aufwartung in einem wohlhabenden Hause, und er muß nun zu Hause ihre Hausarbeit tun. Er wird Tagelöhner und Waschfrau bei ihr, er darf noch bei ihr schlafen, fühlt sich schon als Zuhälter, die Familienperspektive liegt schief. Nun ist er schon drei Jahre ohne Arbeit, und das Aas, die Frau, läßt ihn doch nicht los. Übrigens hat er auch in Bezug auf die Kinder zu tun, was sie will: Die werden katholisch erzogen, denn so hats der Pfaffe die Frau gelehrt. Seine alten kommunistischen Anschauungen bäumen sich dagegen auf, vergeblich: sie hat das Essen und das Geld. Er kneift aus, er kehrt wieder. »Das Allerschlimmste beginnt, wenn die Kinder schlafen, wenn die Türen verschlossen, die Fenster verhängt sind, wenn das ganze kleinbürgerliche Haus tückisch schweigt. Sie zieht sich schon aus. Das eiserne Korsett wird abgelegt, über ihr Gesicht huschen feindselige Gedanken, die jedes seiner Gefühle, jedes Buch auf seinem Tisch hassen. Der Mann weiß es: die Frau freut sich über seine Niederlage, ist glücklich mit seinen Feinden, aber schamlos im Bett, geil, wie es eine Straßendirne nicht sein kann. Keine Prostituierte ist so erfinderisch, wie diese fromme, tugendhafte Frau, die sich hinter verhängten Fenstern ausleben will, die sich auf das Gesetz stützt und von ihrem Mann verlangt, dass er sie wenigstens liebe und befriedige, wenn er seiner idiotischen kommunistischen Ideen wegen zu nichts anderm taugt! Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen. Je zügelloser der Bettkampf, desto größer die Niederlage. Wie eine gesättigte Milbe fällt die befriedigte Frau auf ihre Kissen zurück. Um sofort, noch ehe sie sich das Haar und die verknüllten Röcke geordnet, unzweideutig zu verstehn zu geben, dass dies in ihren Beziehungen natürlich nichts zu andern vermag. Alles bleibt beim alten. ›Erinnre mich morgen daran, Hans, dass ich die Bibel für Lieschen kaufe! Hörst du? Das alte und das neue Testament … ‹«
Und nun will ich euch einmal etwas sagen.
Diese fast genialen Enthüllungen, die uns die Frau über Krupp und über Junkers, über die Russen und die Afghanen hinterlassen hat, sind schon selten genug. Dies hier aber, diese Schilderungen aus dem Lager der Armut, liefert in Deutschland keiner, weil es bei uns kaum Ansätze einer großen gesinnungsvollen und scharfen Reportage gibt.
Die großen Zeitungen können das nicht riskieren, und man solls von ihnen auch nicht verlangen. Dazu sind sie gar nicht da. Der ›Vorwärts‹ schläft wie gewöhnlich, druckt lieber Essays über die Entstehung der Ameiseneier und weiß nicht, wo Gott wohnt. Die kleinere sozialistische Presse im Lande, die in Betracht käme, möchte schon, soweit sie nicht unter dem bürokratischen Diktat des erblich eingesetzten Parteivorstandes ächzt; sie hat aber keine Mittel. Denn solche Reportage kostet zunächst einmal Geld. Dazu muß man herumgehn, horchen, im zu beschreibenden Milieu eine Zeitlang leben … Aber ich glaube, dass sich solches Geld schon fände, wenn auch nur der Ansatz von Begabung dazu zu finden wäre. Es ist ja nicht wahr, dass man, um gedruckt zu werden, großer Protektion bedarf. Alle Kollegen, die um mich herum im Bau tätig sind, Freunde und Gegner, wissen, dass nichts an Trostlosigkeit dem Posteingang einer Redaktion gleicht: diesem Gemisch von Makulatur, Eitelkeit, verkappter Geschäftsstreberei und belanglosem Geschmier. Es sind, neben den Vielzuvielen, immer dieselben sechzig oder achtzig guten Literaten, die nach Farbe, Politik und Gruppenzugehörigkeit jeweils die Tagesblätter und Zeitschriften beliefern, und selbst aus denen einen neuen Funken herauszuschlagen, ist außerordentlich schwer. Wie seltsam von der Zeit abgewandt ist diese Literatur! Ich will gar nicht einmal von der Narretei der historischen Stücke und Bücher sprechen, die, schön wie Scheffel, edel wie Ebers und doof wie Dahn, mit Napolium prahlen. Jeder trägt heute gern alt auf neu. Aber ist denn keiner da, der ein Ohr hat zu hören und ein Auge zu sehn –?
Die großen Bucherfolge in den angelsächsischen Ländern beruhn fast alle darauf, dass ein soziales Milieu beschwingt und exakt wiedergegeben ist. Natürlich genügte der fotografische Naturalismus nicht. Demgegenüber kann der Leser wirklich sagen, er habe das ja nicht nötig, denn wenn er das wolle, gehe er in sein Büro. Bekommt er aber diese Schilderung so naturgetreu, wie etwa im ›Babbitt‹, versehn mit einem Schuß Ironie; so spiegelnd wie im ›Gentlemen prefer Blonds‹, versehn mit einem unterirdisch gluckernden Gelächter; mit solcher Freude am ›Nachmachen‹, wie sie etwa Schüler empfinden, denen der Klassenaugust den Direx kopiert –: wenn so etwas geboten wird, fressen es die Leute. Wir haben hunderterlei Arten deutsch: keiner hört sie. Wir haben zwar kein Cockney und kein Argot, aber tatsächlich spricht ja die blonde Gutsbesitzersfrau anders als deine dicke Tante Jenny und beide wieder nicht so wie ein hamburgischer Reeder. Sie sprechen nicht nur verschieden – sie denken auch verschieden. In den Romanen befleißigt sich das alles einer albernen, nie und nirgends sonst verwandten Allerweltsgrammatik, gespickt mit Lokalausrufen, die doppelt deplaciert wirken. Hören die Leute nicht? Daß in Berlin Stücke mit Erfolg aufgeführt werden, in denen falsch berlinisch gesprochen wird, wollen wir noch gar nicht einmal anführen. Aber dass unter den jungen Literaten keiner ist, der statt uhländischer Lyrik und aufgewärmtem Kraus-Pathos nicht die Augen aufmacht, nicht herausgeht, um zu sehn und zu hören: das fällt auf. Ich weiß, aus dem Ärmel geschüttelt, zwanzig Themen, die alle Leute wirklich interessieren und die uns niemand schreibt.
Nun haben wir in Deutschland Pech: wer wirklich Bescheid weiß, kann nicht schreiben. Ich sehe hier ganz von der Frage des Mutes ab, von der Möglichkeit, dass ein vielbeschäftigter Arzt sich einmal, sagen wir, mit der kitzligen Frage der ärztlichen Verschwiegenheit beschäftigen will, wie denn überhaupt der Fetisch des Standes, der Gruppenkoller und die Vereinswürde jeden Schwung dämpfen. Der Außenstehende wieder möchte schreiben, versteht aber nichts von der Materie, in die sich einzuarbeiten er meist zu faul und zu unfähig ist. Hinterher stimmts nicht, und der Kritisierte kann ein großes Geschrei machen, weil der Kritiker nicht weiß, dass die Preußische Gesindeordnung aufgehoben ist. Mit wiener Literaturschmus ist die Sache nicht zu machen. Wissen, Beobachtungsgabe und Stil zusammen: das ist selten. Denn hier liegen die wirklichen Aufgaben unsrer Zeit, und was Egon Erwin Kisch angefangen hat, ist ein Anfang. Diese Straße sollte man weiter gehn.
Die Ministerialbürokratie hat ihre eignen Gesetze: wird schon darüber geschrieben, so kann man darauf schwören, dass ein kleiner Ressortstänker dahinter steckt, der seinen Büronachbar ärgern will. Was in den Schulen geschieht, kommt nur verzerrt und vereinzelt ans Tageslicht. Die Kundigen schweigen, die Unkundigen leitartikeln. In den Institutionen des Roten Kreuzes tobt sich ein Frauentypus aus, den man mit einem Waschlappen erschlagen sollte: niemand malt ihn uns. In den Fürsorgeämtern werden Kriegsverletzte gequält und im Aktengang um ihren letzten Rest Nerven gebracht: niemand schildert uns das. Geschiehts einmal, dann so langweilig, so unpersönlich, so dumm-individuell, dass man es nicht drucken kann. Da ist der Tag eines Banklehrlings, wie er nun aber wirklich verläuft; der Tag des Herrn Stresemann, wie er wirklich ist; die Nacht eines Barkellners; die Morgen-Telefongespräche einer Kupplerin; die amüsanten Geldgeschäfte eines geachteten demokratischen Grundstücksschiebers: niemand schreibt uns das. Und jeder ist verwundert, dass uns allen die ›Problematik der europäischen Mentalität‹ zum Halse herauswächst. Wir bekommen unser Leben und unsre Zeit stilisiert und schlecht stilisiert, umlogen von Interessenten, oder wir bekommen gar nichts, verschwiegen von Feiglingen.
Larissa Reissner: Du bist für Rußland zu früh gestorben. So eine wie Dich haben wir nie gehabt. So eine wie Dich möchten wir so gerne haben. Eine, die liebt und haßt und in dem Papierkram das sieht, was er wirklich ist: Handwerkszeug. Wir grüßen Dich, Larissa Reissner. Du bist eine Erfüllung gewesen und eine Sehnsucht. Die Sehnsucht nach einem, der den Garten Gottes bis zu den Mistbeeten herunter durchwandert, scharf abmalt, die Gemälde voller Liebe aufhängt oder den Betrachtern um die Ohren schlägt. Einer, der Bescheid weiß und nicht damit prahlt. Einer, der aus seinem Wissen eine Waffe macht für uns und für die Millionen Stummer, deren Stimmen nicht gehört werden. Ein Landsknecht des Geistes.
Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 22.02.1927, Nr. 8, S. 298.