Verhältnisse (Zeichnende Künste)

Verhältnisse. (Zeichnende Künste) Es wäre ein völlig ungereimtes Unternehmen, allgemeine und doch bestimmte Regeln für die Verhältnisse der Teile der schönen Form zu suchen, da unendlich vielerlei Formen bei ganz verschiedenen Verhältnissen schön sein können und überhaupt die Schönheit, folglich auch die Verhältnisse der Form, von der Natur der Sache, der die Form zugehört, abhängt. Eine Schlange ist mit ganz anderen Verhältnissen schön als ein vierfüßiges Tier und dieses als ein Vogel. In der Natur gibt es keine todte Formen, dergleichen die Figuren der Geometrie sind: die Formen natürlicher Körper sind nur wie Kleider anzusehen, die einem schon vorhandenen und seiner Bestimmung gemäß eingerichteten Körper gut angepasst sind. Bei der Form also muss notwendig auf die Sache, der sie als ein Kleid zugehört, ihre Natur und ihre Bestimmung gesehen und daher die Verhältnisse der Teile der Form bestimmt werden. Ohne dieses wär in den zeichnenden Künsten nichts gewisses mehr. Wer ein Trinkgeschirr macht, muss notwendig dabei auf den Gebrauch desselben sehen, daraus das allgemeine der Form bestimmen und denn ihr die Schönheit und den Teilen die Verhältnisse geben, die sich zu jener durch das Wesen bestimmten Form am besten schicken. Davon aber lässt sich außer den allgemeinen Grundregeln, die in dem vorhergehenden Artikel berührt worden, nichts näher bestimmtes sagen.

 Wo aber die zeichnenden Künste die Gegenstände nicht erfinden, sondern aus der Natur nachahmen, da bleibt ihnen auch die Erfindung der Form nicht frei; sie müssen sie nehmen, wie die Natur sie gemacht hat. Da diese gleichwohl bei Formen von einerlei Art, die Verhältnisse der Teile verschiedentlich abändert und einer Form mehr Schönheit gibt als anderen von ihrer Art, so kommt es darauf an, dass der Zeichner das beste für jeden Fall zu wählen wisse. Wir wollen hier, um uns in der unermesslichen Mannigfaltigkeit der Dinge nicht zu verirren, die Betrachtung der Verhältnisse bloß auf die wichtigste aller Formen, der menschlichen Figur einschränken.

 Man schreibt dem Zeichner allgemein genau bestimmte Verhältnisse vor, nach denen er jeden Teil des menschlichen Körpers zeichnen soll, um ihn schön zu machen. Aber man bedenkt dabei nicht genug, dass selbst für die menschliche Gestalt kein absolutes Maß der Schönheit gesetzt sei. Wie die weibliche Gestalt eine andere Schönheit hat als die männliche, die Kindheit eine andere als die männlichen Jahre, so erfordert auch jeder Charakter des Menschen andere Schönheit, folglich andere Verhältnisse. So mancherlei Charaktere zu schildern sind, so vielerlei Verhältnisse müssen auch beobachtet werden. Die griechischen Bildhauer, die das Gefühl des Schönen in einem hohen Grad besaßen, bildeten ihre Gottheiten nicht nach einerlei Verhältnissen; Jupiter, Apollo, Herkules und andere Götter, bekamen jeder andere, nach dem ihnen zukommenden Charakter und so auch die Göttinnen.

 Es fehlt unendlich viel daran, dass wir für jede Art des Charakters die genaue Form des Körpers sollten bestimmen können, die sich am besten für ihn schickt. Also besitzen wir auch keine bestimmte Wissenschaft der Verhältnisse, die man dem Zeichner vorschreiben könnte.

 Da die Charaktere der Menschen aus so mannigfaltigen Vermischungen ihrer Eigenschaften bestehen, dass es unmöglich ist alle zu bestimmen, so ist es auch nicht möglich die Verhältnisse der verschiedenen schönen Formen des Körpers anzugeben. Doch scheint es, dass die Griechen darin das meiste getan haben. Sie legten ihren meisten Gottheiten bestimmte Charaktere bei, deren jeder in seiner Art das höchste war, was man etwa an Menschen beobachten konnte; ihre Bildhauer befließen sich in dem Bild jeder Gottheit ihren Charakter auszudrücken, und dieses nötigte sie die menschliche Gestalt auf das genaueste zu betrachten, damit sie entdecken konnten, wie die Natur die vorzüglichsten Charaktere der Menschen in der Gestalt des Körpers sichtbar gemacht habe. Durch dieses Studium entdeckten sie, wie die Verhältnisse sein müssten, wenn die Gestalt eine Venus oder eine Juno nach ihrem Charakter abbilden sollte. Die Gestalt der Königin der Götter musste bei der weiblichen Schönheit auch Hoheit und Ernst; das Bild der Göttin der Liebe, alle Reizungen zur Wollust darstellen.

 Wir können also nichts besseres tun, da unsere Begriffe von menschlicher Vollkommenheit überhaupt betrachtet, eben die sind, die die Griechen gehabt haben als die Verhältnisse annehmen, die sie in der Natur durch vieles Forschen entdeckt haben. Es ist ein großer Verlust für die zeichnenden Künste, dass die Werke der Griechen, die über die Verhältnisse geschrieben haben, verloren gegangen. Philostratus führt in der Vorrede zu der Beschreibung seiner Bilder einige davon an. Doch ist dieser Verlust dadurch in etwas ersetzt, dass noch verschiedene schöne Werke der bildenden Künste übrig geblieben sind, woraus man die Verhältnisse, denen sie folgten, abmessen kann. Man hat die besten Antiken vielfältig abgezeichnet, und nach allen Verhältnissen ausgemessen. Aber zum Studium der besten Verhältnisse fehlt es nun noch an einem Werke, darin die Charaktere, die die Griechen in ihren Bildern haben sichtbar machen wollen, genau beschrieben wären. Ein in den Schriften der Alten durchaus erfahrner Philosoph, müsste uns den Charakter des Jupiters, Mars und aller Götter, Göttinnen und Helden, deren Bilder wir haben, beschreiben. Diese gegen die vorzüglichsten Bilder gehalten, würden uns ziemlich bestimmt sehen lassen, durch was für Verhältnisse jeder Charakter am sichtbarsten ausgedrückt wird.

 Es wäre eine geringe Mühe diesen Artikel mit verschiedenen Tabellen von wirklich ausgemessenen Verhältnissen der Teile des menschlichen Körpers zu verlängern; wir halten es aber dem Zweck dieses Werks nicht gemäß, uns in diese Weitläufigkeiten einzulassen, zumal, da der deutsche Künstler in des Hrn. von Hagedorn Betrachtungen über die Malerei, das meiste, was hier anzuführen wäre, bereits finden kann.

 


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