Vers. Der Vers ist in der Rede gerade das, was der Rhythmus im Gesang ist: was wir also in einem besonderen Artikel vom Rhythmus gesagt haben, gilt auch von dem Vers und kann hier vorausgesetzt werden. Wie ein rhythmischer Abschnitt der Melodie (ein Rhythmus) aus einer kleinen Anzahl Takte besteht, die so zusammenhängen, dass das Ohr sie als ein kleines Ganzes auf einmal fasst und am Ende einen merklichen Schlussfall fühlt; gerade so besteht der Vers aus einigen Füßen, die zusammen einen dem Gehör auf einmal faßlichen Satz mit einem merklichen Schlussfall ausmachen. Indem wir den Ursprung, die Natur und Wirkung des Rhythmus erklärt haben, ist zugleich eben dieses auch von der gebundenen Rede erkläret worden. Also bleibt uns hier eigentlich nur die Betrachtung der Dinge noch übrig, die dem Vers als einer besonderen Art des Rhythmus eigentümlich sind. Er ist ein Rhythmus ohne Gesang, durch den bloßen Ton der Rede erzeugt; und ein Gedicht, dessen Versban richtig ist, muss durch den Vortrag, der der Sprache und dem Inhalt angemessen ist, von selbst in vernehmliche Verse geteilt werden.
Jeder Vers muss diese zwei Haupteigenschaften haben, dass er 1. aus gleichlangen und gleichartigen Füßen bestehe, die durch richtigen Vortrag merklich werden und 2. einen merklichen Schlussfall habe, wo durch er sich von dem folgenden Vers absondert. Dadurch wird also der Gang oder der Fluß der Rede in gleichlange Glieder (Füße) deren jedes zwei oder mehr Silben hat, abgeteilt; in jedem Gliede kommen dieselben Akzente, in derselben Ordnung immer wieder, und einige solcher Glieder machen einen Abschnitt aus, so dass das Gehör währender Rede sich beständig mit Abmessen und Zählen beschäftigt, und dadurch in der Einheit der Empfindung unterhalten wird, wie an seinem Ort ausführlich gezeigt worden.1
Der Tonsetzer zeigt sein Metrum dadurch an, dass er im Anfang seines Stücks die Taktart und Bewegung andeutet, durch deren richtigen Ausdruck der Rhythmus vernehmlich wird. Der Dichter hat aber dieses nicht nötig; wer ihn so, wie die Natur der Spräch und der Inhalt oder Sinn der Rede, es erfordert, ließt, trifft die rhythmischen Abteilungen, ohne weitere Kunst schon dadurch allein. Man lese folgendes, so wie die deutsche Sprache und der Sinn es erfordert: so wird man natürlicher Weise die hier durch Striche bezeichneten Silben mit Nachdruck aussprechen, die dazwischen liegenden aber leicht. Dadurch aber entsteht die Einteilung des Ganges der Rede, in gleiche Füße oder Takte, gerade so wie wir es vom Rhythmus gezeigt haben.
Fangt | an! Ich | glühe be | reits. Fangt | an hold | selige | Saiten!
Ent | zückt der | Echo be | gieriges | Ohr!
In Musik gesetzt, würde das Metrische dieser Verse so aussehen Der Takt oder die Einteilung in gleichlange Füße, ist hier jedem Ohr empfindbar. Nach dem siebten Takt ist der Schlussfall durch das Ende des Sinnes merklich. Doch könnte er es auch ohne dieses sein, wenn statt des Trochäus Saiten, ein wahrer und reiner Spondäus stünde; weil dann die Bewegung sogleich anzeigte, dass die folgende schwache Silbe ent, nicht mehr zu dem vorgehenden Fuße könne genommen werden, indem dadurch die Gleichförmigkeit der Bewegung zerstört würde. Eben so wird jeder in folgendem Verse, den Nachdruck allemal auf die Silben legen, die mit Strichen bezeichnet sind. Folglich wird jeder diesen Satz metrisch so lesen: Der Schlussfall wird im sechsten Takte dadurch merklich, dass nach der letzten kurzen Silbe notwendig eine Pause muss gemacht werden; weil in dem folgenden Worte dieser, die erste Silbe den Nachdruck hat, folglich mit der letzten des vorhergehenden Taktes nicht in eines gezogen werden kann, ohne dass die Einförmigkeit der Bewegung zerstört würde.
Diese Beispiele sind hinlänglich die Natur des Verses überhaupt zu erklären und zu zeigen, wie jeder Leser, dem die Sprache geläufig, der Inhalt verständlich ist und der zugleich einiges Gefühl im Gehör hat, den Gang der gebundenen Rede metrisch und rhythmisch abteilen wird.
Das Wesen des Verses besteht also darin, dass er in gleichartigen Füßen fortgehe und einen merklichen Schlussfall habe; seine Vollkommenheit aber darin, dass beides bei dem, der Sprache und dem Inhalt völlig angemessenen, Vortrag, ohne den geringsten Anstoß leicht merklich sei. Beides bedarf einiger Erläuterung.
Gleichartig sind die Füße, die aus gleich viel Zeiten bestehen, und die Akzente auf denselben Zeiten haben. So sind der Spondäus und Daktylus gleichartig, weil sie aus zwei gleichlangen Zeiten bestehen, davon die erste schwer, die andere leicht ist oder . In unserer Sprache kann der Trochäus, wenn nur der Zusammenhang der Worte und der Sinn es verträgt, ohne dem Ohr anstößig zu sein, wie ein Spondäus ausgesprochen werden; besonders da, wo er am Einschnitt in dem Sinn der Worte steht. In dem vorher angeführten Verse:
Wißt es: jenseit des Grabes u.s.w.
kann und soll man lesen würde man in einen anderen Zusammenhang sagen: Ihr wisst es schon; so würden dieselben Silben notwendig, wie ein Trochäus, der eigentlich drei Zeiten hat, auszusprechen sein: Ihr schon;2 Der Jambus und der Trochäus sind ungleichartig. Denn obgleich beide aus drei Zeiten bestehen, davon zwei in eins zusammengezogen sind und (beide so viel als ) so sind sie darin völlig verschieden, dass die schwere Silbe in beiden nicht einerlei Stelle hat. Gleichartig sind also die Füße, die aus gleich viel Zeiten bestehen und den Nachdruck auf einerlei Stellen haben, als, und und Es scheint zwar, dass es Verse gebe, wo ungleichartige Füße vorkommen als In verba jurabas mea.3. Allein dieses geschieht nur in Doppelfüßen, die wie der zusammengesetzte Takt in der Musik anzusehen sind. Der angeführte Vers hat eigentlich nur zwei Füße und beide sind gleichlang und durchaus gleichartig. Indessen könnten dergleichen Verse, ohne langweilige Monotonie nicht viel hintereinander folgen.
Ohne ganz ermüdende Weitläufigkeit können nicht alle Fälle, der gleich- und ungleichartigen Zusammensetzungen angezeigt werden. Wir begnügen uns überhaupt anzumerken, dass der Dichter den Tonsetzer zum Muster zu nehmen habe, der nicht zweierlei Taktarten in einen Rhythmus verbindet, es sei denn, dass er etwa dem Ende desselben durch die Taktänderung einen besonders merklichen Schlussfall geben wolle.
Der Schlussfall des Verses kann auf sehr verschiedene Weise merklich gemacht werden. Ehedem bedienten sich die Deutschen und auch andere Dichter, des Reims und des merklichen Einschnitts im Sinn als der bequemsten Mittel hierzu; aber ein feineres Gehör gab den Griechen und den Römern andere Mittel an die Hand. Sie wußten jedem Vers dadurch einen Schluss zu geben, dass die erste oder die zwei ersten Silben des folgenden Verses unmöglich mit der letzten des vorhergehenden konnten in einen Fuß zusammenfließen, ohne dass der ganze Gang der Rede zerstört würde: und dieses haben auch wir nun von ihnen gelernt. Wer folgendes, ohne Abteilung geschrieben fände:
Und ein liebenswürdiges Paar, zwo befreundete
Seelen, Benjamin und Dudaim, umarmten einander und sprachen.
würde bald merken, dass es zwei Hexameter sind. Denn es ist nicht möglich, weder eine, noch zwei Silben vom Anfange des zweiten Verses, mit zum ersten zu ziehen, ohne den metrischen Gang ganz zu zerstören. Alles leitet uns natürlich darauf nach dem Worte Seelen das Ende eines rhythmischen Abschnitts zu empfinden. Die Alten wußten dieses so bestimmt fühlen zu machen, dass sie sogar den Vers mitten in einem Wort endigten. Doch mag dieses eine bloß geduldete poetische Freiheit gewesen sein; denn es kommt doch, gegen die anderen Fälle, wo der Vers sich mit einem Wort endigt, nicht oft vor. Denn ist auch die Pause oder eine im letzten Fuß fehlende Silbe oder wenn man lieber will, eine nach dem letzten Fuß angehängte Silbe, ebenfalls ein Mittel den Schluss fühlbar zu machen, als:
Komm Do | ris komm | zu je | nen Bu | chen –.
Da nach dem Gange des Verses auf die letzte Silbe notwendig wieder eine lange Silbe folgen muss, die erste Silbe des folgenden Verses aber offenbar kurz ist, so fühlt man hier die Pause, welche die Stelle der noch fehlenden langen Silbe einnimmt. Eben so würde man das Ende merken, wenn man den Vers, trochäisch, mit vorgesetzter kurzen Silbe lesen oder wie man in der Musik spricht, im Auftakt anfangen wollte: Komm | Doris | komm zu | jenen | Buchen |. Wollte man den Vers durch einen Fuß des folgenden verlängern, so passte er als ein Jambus, nicht in die Bewegung. Also fühlt man auch so das Ende des Verses.
Wir begnügen uns dieses wenige, über den Schlussfall des Verses angemerkt zu haben und überlassen es einem geübten Dichter die Materie praktisch auszuführen, da die Ausübung selbst uns völlig fremd ist.
Zur Vollkommenheit des Verses, insofern man sie vom Ausdruck unabhänglich betrachtet, wird verschiedenes erfordert. Erstlich muss der wahre metrische Gang, auf eine völlig ungezwungene Weise, so bald man dem Geiste der Sprache und dem Inhalt gemäß ließt, dem Ohr leicht vernehmlich sein, so dass man, ohne den wahren Vortrag zu verlezen, ihn gar nicht unmetrisch lesen könnte. Jeder Redesatz hat nach der Verbindung der dazu gehörigen Wörter und nach dem Sinn, den er ausdrückt, seine bestimmte grammatische und rhetorische Akzente. Werden diese gehörig beobachtet, so muss gleich das Metrum da stehen, wenn der, welcher ließt, es auch nicht gesucht hätte. Hierzu dient nun sehr die Vorsichtigkeit, die Worte so zu wählen, dass sie durch die Füße des Verses an einander gekettet werden, damit man nicht irgendwo nach einem Fuß eine Pause setzen könne. In der freundschaftlichen Sprache des täglichen Umganges, könnte eine Mutter, die mit einem Kind auf dem Felde wäre, zu ihm sagen: Komm Doris, komm; – zu jenen Buchen, so dass diese Worte ihr Metrum völlig verlöhren. Der Grund davon ist, weil mit dem dritten Worte, sich auch ein Fuß endigt. So genau kann nun der Vers selten gemacht werden, dass gar alle Worte durch die Füße an einander gekettet würden; aber darauf muss der Dichter wenigstens mit Fleiß sehen, dass kein Einschnitt im Sinn gradeam Ende eines Fußes stehe. Haller sagt:
Hier spannt o! Sterbliche, der Seele Sehnen an, Wo Wissen ewig nutzt und Irren schaden kann.
Nach dem Wort Sterbliche kann man, obgleich der Fuß zu Ende ist, nicht stehen bleiben, man muss forteilen und dadurch das Metrum empfinden, weil der Sinn noch nicht bestimmt ist. Im zweiten Vers aber, kann man bei dem Worte nutzt, stehen bleiben, so lange man will; weil der Fuß und zugleich der Sinn vollendet ist. Deswegen zerfällt auch dieser Vers in zwei Hälften, da er bloß einen kleineren Ruhepunkt in der Mitte haben sollte. Der Vollkommenheit des ersteren dieser Verse schadet es aber, dass man die letzte Silbe des Wortes Sterbliche gegen seine wahre Aussprach nachdrücklich oder schwer machen muss.
Zweitens gehört zur Vollkommenheit des Verses, ein so genau bestimmtes Metrum, dass man ohne Verlezung des wahren Vortrages, ihn nicht auf zweierlei metrische Weise lesen könne. Hr. Schlegel, der dieses auch anmerkt, führt von dieser Zweideutigkeit des Metrum folgendes Beispiel an.
Ich sah, wie wir vordem, auf ein Orangenblatt. der Vers ist ein gewöhnlicher aber schlechter Alexandriner:
Ich sah | wie wir | vordem | auf ein | oran | gen Blatt,
aber er ist auch ein choriambischer Vers
Ich sah | wie wir vordem | auf ein o | rangen Blatt.
Diese beiden zur Vollkommenheit des Verses erfoderlichen Punkte, hat Hr. Schlegel sehr gründlich abgehandelt und mit Beispielen hinlänglich erläutert.4
Drittens muss der Vers auch fließend und wohlklingend sein. So wird er, wenn jedes Wort nicht nur für sich, sondern auch in dem Zusammenhang, darin es vorkommt, leicht auszusprechen ist; wenn der Sinn desselben jedem Leser von Gehör das Schweere und Leichte der Silben so darbietet, dass er, ohne Suchen, jedes Verhältnis in Dauer und Nachdruck genau trifft; und wenn die Folge der Silben so ist, dass das Gehör bei jeder die folgende schon erwartet, so dass man nirgend stille stehen kann, bis man das Ende des Verses erreicht hat.
Alle diese Dinge betreffen aber nur die mechanische Vollkommenheit des Verses, die jedes Ohr empfinden würde, wenn man auch den Sinn der Worte nicht verstünde. Zur inneren Vollkommenheit des Verses wird nun auch erfordert, dass sein metrischer Gang uns etwas empfinden lasse, das den Eindruck des Sinnes unterstützt. Man kann die ästhetische Kraft des Rhythmus am besten in der Musik fühlen, wo sie auch ohne Worte richtig empfunden wird. Da es nun kaum möglich ist, Regeln zu geben, durch welche für jeden Ausdruck der eigentliche Rhythmus zu finden wäre, so können wir hier nichts mehr tun als dem Dichter das Studium der Musik empfehlen. Da wird er erfahren, wie man bloß durch Rhythmus und ohne Worte verständlich mit dem Herzen sprechen könne. Zugleich aber wird er auch überzeugt werden, dass einerlei Rhythmus, nach Beschaffenheit der schnellen oder langsamen Bewegung, verschiedenen Ausdruck bekommt. Wer sich die Mühe geben will, das, was wir in zwei anderen Artikeln5 davon angemerkt und mit Beispielen erläutert haben, genau zu studieren, wird hierüber ziemliches Licht bekommen. Da ich mein Unvermögen fühle, dem Dichter über diesen wichtigen Punkt etwas bestimmteres zu sagen; so muss ich mich begnügen, ihn auf die angeführte Abhandlung des Herrn Schlegels, und vornehmlich auf das, was Hr. Klopstock über diese Materie bis jetzt bekannt gemacht hat, zu verweisen. Das einzige, was sich vielleicht bestimmt sagen lässt, betrifft die Länge und Kürze der Verse. Denn es scheint ausgemacht zu sein, dass eine Folge von ganz kurzen Versen sich zu einem leichten, fröhlichen, tändelnden, scherzhaften, auch zärtlichen Ausdruck; eine Folge von langen Versen aber sich zu ganz ernsthaften und feierlichen Empfindungen vorzüglich schicke.
Das kürzeste Maß des Verses, scheint von zwei und das längste von sechs, höchstens von acht Füßen zu sein. Wäre der Vers kürzer, so würde das Ohr ihn nicht als etwas Ganzes, sondern als einen Teil als ein Fragment empfinden; wäre er länger, so könnte es ihn nicht mehr als ein Ganzes fassen. Wir sehen daher, dass schon ein Vers von sechs Füßen, so kurz sie auch seien, zur Erleichterung des Gehöres einen kleinen Einschnitt haben muss, damit man nicht nötig habe, alle Füße einzeln im Gefühl zu behalten, sondern den Vers in zwei Gliedern fassen könne.
Da man zu einem Verse mehr oder weniger Füße nehmen kann; da diese von einerlei oder von verschiedenen Arten sein können; da endlich in diesem zweiten Falle die Füße in verschiedener Ordnung stehen können, so entsteht daraus eine erstaunliche Mannigfaltigkeit der Verse, davon nur einige wenige Arten besondere Namen bekommen haben. Einige werden nach dem darin durchaus oder vorzüglich gebrauchten Fuß, genannt; als jambische, trochäische Verse: andere haben ihre Namen von der Zahl der Füße, wie der Pentameter, Hexameter; andere von der Art des Gedichts u.s.w. Von einigen Arten haben wir in besonderen Artikeln gesprochen; wir überlassen aber eine umständlichere Betrachtung aller gewöhnlichen Arten der Verse denen, die besonders und ausführlich über den Bau der Verse zu schreiben Lust haben.
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1 S. Rhythmus
2 Wer daran zweifeln wollte, dass der Jambus und Trochäus drei Zeiten haben, die den drei Zeiten gleich sind, darf nur bedenken, wie gewöhnlich es sei, dass wir im Deutschen mit völlig gleichem Erfolg am Ende eines Redesatzes, ein zwei- oder ein dreisilbiges Wort setzen. Man sagt eben so gut: – sie sind geteilt, als: sie sind geteiler, beides ist im Klang einerlei; weil der Jambus geteilt in der Tat ausgesprochen wird – geteilt, so dass er einigermaßen dreisilbig, wenigstens dreizeitig wird. So ist es auch mit dem Trochäus. In dem Worte Fortkommen merkt das Gehör deutlich zwei kurze Silben am Ende; sagt man aber er wird kommen, so hat das zweisilbige Wort kommen, offenbar drei Zeiten kommen.
3 Hor. Epod. XV.
4 In s. Abhandlung von der Harmonie des Verses.
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