Verzögerung. (Musik) Es geschiehet bisweilen, dass in der Musik eine Stimme ihre Töne früher oder später angibt als der Gang des Gesangs oder die Bewegung und Takt es erforderten. In so fern dieses aus Überlegung geschieht, um den Ausdruck zu unterstützen, wird es unter die Kunstgriffe gezählt, die unter den lateinischen Namen Retardatio und Anticipatio bekannt sind. Man kann sich beides an folgenden Beispielen vorstellen. Wenn zwei Stimmen auf folgende Art mit einander fortrücken: so haben beide einen gleichen Gang; in beiden Stimmen werden die zusammengehörigen Töne auf jeden Schritt zu gleicher Zeit angegeben: aber in folgenden Beispielen
wird der Gang ungleich. In den zwei ersten Fällen bleibt die obere Stimme auf jeden Schritt um ein Achtel hinter der untern zurück und dieses wird Verzögerung, Retardatio genannt; in den beiden anderen aber treten zwar im Niederschlag beide Stimmen zugleich ein, in den folgenden Taktzeiten aber tritt die obere Stimme auf jeden Schritt früher als die untere ein; dieses nennt man Voreilung, Anticipatio.
Es ist offenbar, dass das Verzögeren und Voreilen die Harmonie auf jeden Schritt verändert; es entstehen dadurch verschiedene Dissonanzen, die aber im Generalbass allgemein nicht angedeutet werden. Nur bei ganz langsamer Bewegung, werden die daher entstehenden Dissonanzen als Vorhalte mit Ziffern bezeichnet und müssen in dem begleitenden Basse wirklich angeschlagen werden. Also müsste folgendes in dieser Form mit Anschlagung aller Quinten in der Begleitung gespielt werden. Denn obgleich hier auf den guten Taktzeiten Quinten auf Quinten kommen, so ist eine solche Fortschreitung doch gut, weil bei der 6 eine eigene gute konsonierende Harmonie steht. Im Absteigen aber wäre dieses unrichtig, weil nach den Quinten keine konsonierende Harmonie folgt, wie dieses Beispiel zeigt: In folgenden zwei Fällen ist die Voreilung der oberen Stimme nicht zulässig; weil unvorbereitete Septimen und vorgehaltene Quinten ohne Vorbereitung auf einander folgen.
Die Sänger und Spieler bringen oft Verzögerungen oder Voreilungen an, die der Tonsetzer nicht angezeigt hat und gar oft sind sie von sehr guter Wirkung. Aber wer dieses tun will, muss eine hinlängliche Kenntnis der Harmonie haben, damit er nicht gegen die Regeln des reinen Satzes dabei anstoße. Überdem muss man auch darauf Acht haben, ob die anderen begleitenden Stimmen solche Veränderungen in dem Fortschreiten zulassen. Wenn die Violinen oder Flöten die Hauptstimme im Unisonus begleiten, kann diese weder verzögeren, noch voreilen, weil sie mit den anderen Stimmen lauter Sekunden machen würde.
Mit den schicklichen und den Ausdruck habenden Verzögerungen und Voreilungen muss man das so genannte Schleppen und Eilen, das aus wirklichem Mangel des Gefühls der wahren Bewegung entsteht, nicht verwechseln; denn dieses sind wahre und schwere Fehler, die die ganze Harmonie eines Stücks verderben. Wer durchaus mit seiner Stimme jeden Ton um ein Achtel zu früh oder zu spät angibt, verursacht eine völlige Verwirrung in der Harmonie. Doch ist das Eilen, noch erträglicher als das Schleppen; weil die eilende Stimme die anderen bald mit sich fortreißt.