Vollkommenheit

Vollkommenheit. (Schöne Künste) Vollkommen ist das, was zu seiner Völle gekommen oder was gänzlich, ohne Mangel und Überfluss das ist, was es sein soll. Demnach besteht die Vollkommenheit in gänzlicher Übereinstimmung dessen, das ist, mit dem, was es sein soll, oder des Wirklichen mit dem Idealen. Man erkennt keine Vollkommenheit als insofern man die Beschaffenheit einer vorhandenen Sache gegen ein Urbild oder gegen einen als ein Muster festgesetzten Begriff hält. Es gibt zwar Fälle, wo wir über Vollkommenheit urteilen ohne völlig und gänzlich bestimmt zu wissen, was ein Gegenstand in allen möglichen Verhältnissen genommen, sein soll; aber dann beurteilen wir auch nicht die ganze Vollkommenheit solcher Dinge, sondern nur das, davon wir einen Urbegriff haben. Wenn uns etwas von Gerätschaft, ein Instrument, eine Maschine, zu Gesichte kommt, deren besondere Art oder Bestimmung uns völlig unbekannt ist, so halten wir doch etwas davon gegen festgesetzte Urbegriffe; wir sagen uns, dieses ist ein mechanisches Instrument oder eine Maschine, u.s.w. Ohne näher zu wissen, was es sein soll, sehen wir in vielen Fällen, dass etwas daran fehlt, dass etwas daran zerbrochen oder dass etwas, das mit dem übrigen nicht zusammenhängt oder irgend etwas, das unseren Begriff von der Sache entgegen ist; und insofern entdecken wir Unvollkommenheit darin. Eben so kann es auch sein, dass wir eine uns in ihrer besonderen Art unbekannte Sache vollkommen finden, weil wir sie gegen den Urbegriff einer etwas höheren Gattung oder einer allgemeinern Klasse der Dinge halten. Wann wir ein uns unbekanntes Tier sehen, das wir zu keiner Art zählen können, so erkennen wir doch überhaupt, dass es ein Tier ist und beurteilen, ob es das an sich hat, was zu einem Tier gehört. Wären wir in der Ungewissheit, ob es ein Tier oder eine Pflanze sei, so würden wir doch urteilen, dass es zu der Klasse der Dinge gehört, die erzeugt werden, allmählich wachsen und einen inneren Bau haben, der dies allmähliche Wachsen verstattet u.s.w. Und insofern wäre es möglich Vollkommenheit oder Unvollkommenheit darin zu entdecken.

 Durch Beobachten und Nachdenken bekommt jeder Mensch eine Menge Grund- oder Urbegriffe, (pronoïæ, anticipationes, wie die alten Philosophen sie nannten) gegen die er denn alles, was ihm vorkommt, hält, um zu beurteilen, was es sei, zu welcher Klasse, Gattung oder Art der Dinge es gehöre. Je mehr ein Mensch des Nachdenkens gewohnt ist, je mehr deutliche Begriffe er hat, je geneigter ist er überall Vollkommenheit oder Übereinstimmung dessen, was er sieht, mit seinen Urbegriffen zu suchen und zu beurteilen.

 Die Entdeckung der Vollkommenheit ist natürlicher Weise mit einer angenehmen Empfindung begleitet. Dieses können wir hier als bekannt und als erklärt oder erwiesen annehmen, um daraus den Schluss zu ziehen, dass die Vollkommenheit ästhetische Kraft habe, folglich ein Gegenstand der schönen Künste sei. Doch ist sie es nur insofern als sie sinnlich erkannt werden kann. Eine Maschine von großer Vollkommenheit als z.B. eine höchst genau gearbeitete und richtig gehende Uhr; die richtigste und genaueste Auflösung einer philosophischen oder mathematischen Aufgabe, der bündigste Beweiß eines Satzes, sind vollkommene Gegenstände; doch nicht Gegenstände des Geschmacks, weil ihre Vollkommenheit sehr allmählich und mühesam durch deutliche Vorstellungen erkannt wird. Nur die Vollkommenheit, die man anschauend, ohne vollständige und allmähliche Entwicklung, sinnlich erkennt und gleichsam auf einen Blick übersieht, ist ein Gegenstand des Geschmacks. Wird sie nicht erkannt, sondern bloß in ihrer Wirkung empfunden, so bekommt sie den Namen der Schönheit.

  Es gibt verschiedene Arten des Vollkommenen, eine Vollkommenheit in Zusammenstimmung der Teile zur äußerlichen Form, eine Vollkommenheit in der Zusammenstimmung der Wirkungen: eine absolute Vollkommenheit, die aus notwendigen ewigen Urbegriffen beurteilt wird und eine relative, die man aus vorausgesetzten oder hypothetischen Urbegriffen beurteilt. So sind allgemein alle Reden, die Homer seinen Personen in den Mund legt, nach der Kenntnis, die wir von ihren Charakteren und der Lage der Sachen haben, höchst vollkommen.

 Auch Wahrheit, Ordnung, Richtigkeit, Vollständigkeit, Klarheit, sind im Grunde nichts anders als Vollkommenheit und gehören in dieselbe Klasse der ästhetischen Kraft, weil sie die Vorstellungskraft gänzlich und völlig befriedigen. Was wir aber über alle diese Arten des Vollkommenen zum Gebrauch des Künstlers zu erinnern fanden, ist bereits in dem Artikel Kraft und in einigen anderen Artikeln angemerkt worden.1

 Vollkommenheit, von welcher Art sie sei, ist allemal ein Werk des Verstandes und wirkt auch unmittelbar nur auf den Verstand. Wie viel Geschmack und Empfindung ein Künstler haben mag, so muss noch Verstand und Beurteilung hinzukommen, wenn er etwas machen soll, das durch Vollkommenheit gefällt.

 

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1 S. Ordnung, Richtigkeit, Klarheit.

 

 


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