Verhältnisse (Baukunst)

Verhältnisse. (Baukunst) Mit den Verhältnissen in der Baukunst hat es eine ähnliche Bewandnis als mit denen im menschlichen Körper. Da man einmal vollkommene Muster vor sich hat, so müssen die Verhältnisse derselben als erwiesene Regeln angenommen werden. Sie sind zwar nicht so bestimmt, dass man nicht vielfältig, ohne den guten Geschmack zu beleidigen davon abweichen könnte und wirklich abgewichen wäre. Da aber zu befürchten ist, dass dergleichen Abweichungen nach und nach zu großen Ausschweifungen Gelegenheit geben möchten, so scheint die Erhaltung des guten Geschmacks zu erfordern, dass die genaue Beobachtung der von den besten Baumeistern gebrauchten Verhältnisse als ein unveränderliches Gesetz angenommen werde. Denn wo man einmal die Regeln aus den Augen setzt, da wird dem schlechten Geschmack die Freiheit gelassen, nach und nach das Schöne zu vertreiben, wie aus unzähligen Beispielen in der Baukunst kann dargetan werden.

 Was ein alter Philosoph1 bei einer anderen Gelegenheit angemerkt hat, kann auch hier angewendet werden. »Wenn du einmal vergessen hast, sagt er, dass der Schuh bloß zur Verwahrung des Fußes gemacht ist, so hast du bald einen verguldeten Schuh, danach einen von Purpur und denn einen ausgeschnitzten. Denn wenn man einmal das Ziel der Natur überschritten hat, so hat man auch keine Schranken mehr gegen die Ausschweifung.« Es scheint also besser getan zu sein, wenn man durch eine genaue Befolgung der einmal vorgeschriebenen Verhältnisse, die Baukunst in dem Zustand lässt, worin sie von den größten Meistern gesetzt worden ist als dass man durch Abweichungen von denselben, den schlechten Geschmack die Freiheit lasse, das schon entdeckte Schöne zu verderben.

 Da von den allgemeinen Grundsätzen über gute Verhältnisse vorher gesprochen, in verschiedenen Artikeln über die Teile der Gebäude, auch ihre Verhältnisse angegeben, in dem Artikel Ordnung aber die wichtigsten Werke, woraus die Verhältnisse der alten Baumeister gelernt werden können, angezeigt worden, so enthalten wir uns hier fernerer Weitläufigkeit über diese Materie.

 

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1 Epictetus.

 


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