Verhältnis

Verhältnis. (Schöne Künste) Die Größe oder Stärke eines Teils insofern man ihn mit dem Ganzen, zu dem er gehört, vergleicht. Größe und Stärke sind unbestimmte Dinge, die unendlich wachsen und unendlich abnehmen können. Man kann von keiner Sache sagen, sie sei groß oder klein, stark oder schwach als insofern sie gegen eine andere gehalten wird.

 In einem Gegenstande der aus Teilen besteht, herrscht ein gutes Verhältnis der Teile, wenn keiner in Rücksicht auf das Ganze, weder zu groß noch zu klein ist. Unser Urteil über das Verhältnis der Teile entsteht entweder aus der Natur der Sachen oder aus der Gewohnheit. Diese hat uns gewisse Maßen der Dinge so bekannt gemacht, dass die Abweichung davon etwas Widersprechendes oder Übertriebenes in unseren Vorstellungen hervorbringt. Denn wir können uns nicht enthalten, in einem uns ganz bekannten und geläufigen Gegenstand, so bald wir ihn sehen, alles so zu erwarten, wie wir es gewohnt sind. Ist nun etwas darin merklich größer oder kleiner als das gewöhnliche Maß erfordert, so erweckt derselbe Gegenstand zweierlei Vorstellungen, die einander in einigen Stücken widersprechen. In Dingen, die bloß durch die Gewohnheit bestimmt sind, können die Urteile der Menschen über die Verhältnisse einander entgegen sein.

 Es gibt aber auch ein Urteil über Verhältnisse, das aus der Natur der Sache selbst entsteht. Wenn ein Teil des Ganzen eine Größe hat, die seiner Natur oder seiner Bestimmung widerspricht; so wird uns dieses Missverhältnis notwendig anstößig. Eine sehr hohe und dabei sehr dünne Säule erweckt gleich die Vorstellung, dass sie zu schwach ist, die darauf gesetzte Last zu tragen. Zwei ähnliche Glieder eines Körpers, die zu einerlei Gebrauch dienen, wie die Ärme, die Füße, die Augen, müssen ihrer Natur nach gleich groß sein. Ein Fehler gegen dieses Verhältnis, widerspricht diesem Grundgesetz.

 Ein Gegenstand wird für wohl proportionirt gehalten, wenn kein Teil daran in seinem Maße weder der Gewohnheit noch der Natur widerspricht. Dann zieht kein besonderer Teil wegen seiner Größe die Augen auf sich; man behält die völlige Freiheit das Ganze zu fassen und den Eindruck desselben zu fühlen. Man empfindet also vermittelst der guten Verhältnisse die wahre Einheit der Sache, wodurch der Eindruck den sie machen soll, vollkommen werden kann, weil von den Teilen, woraus das Ganze besteht, keiner die Aufmerksamkeit besonders auf sich zieht. Hingegen schadet der Mangel der guten Verhältnisse sowohl dadurch, dass die unproportionirten Teile unsere Vorstellungskraft auf sich lenken, folglich sie vom Ganzen abziehen, danach auch dadurch, das sie durch das Widersprechende, das jedes Misverhältnis hat, beleidigen. Ohne Vollkommenheit der Verhältnisse, kann also kein Gegenstand schön sein.

 Das Verhältnis zeigt seine Wirkung in allen Arten der Größen, nicht nur in der Ausdehnung: In jedem Gegenstande, wo mehr Dinge zugleich in ein harmonisches Ganzes zusammenfließen sollen, kann Verhältnis oder Missverhältnis statt haben. Auch in Dingen von ganz anderer Art, die bloß die innere Empfindung reizen, kann ein Teil zu viel oder zu wenig Reizung in Absicht auf das Ganze haben. Mithin hat die Betrachtung der Verhältnisse überall statt, wo Teile sind, deren Wirkung Grade zulässt.

 In sichtbaren Gegenständen haben Verhältnisse statt, in der Größe der Teile, indem einige zu groß oder zu klein sein können; in dem Lichte, indem einige zu helle, andere zu dunkel sein können; in der Art der Kraft oder der Reizung, da ein Teil schöner oder reizender, rührender, überhaupt kräftiger sein kann als es das Ganze verträgt. In Gegenständen des Gehörs haben Verhältnisse in der Dauer, in der Stärke des Tons, in der Höhe und Tiefe, in dem Reiz oder der Kraft derselben statt. Es wäre demnach ein Irrtum zu glauben, dass nur in zeichnenden Künsten und in der Baukunst die guten Verhältnisse zu studieren seien: Jeder Künstler muss sie beobachten; denn dadurch entsteht das Ebenmaß oder die Harmonie oder die wahre Einheit des Ganzen.

 Hier entsteht also die Frage, was der Künstler in jedem Werke, das Verhältnis der Teile erfordert, in Ansehung derselben zu überlegen habe. Verschiedene Philosophen und Kunstrichter haben bemerkt, dass die Verhältnisse am besten gefallen, die sich durch Zahlen ausdrücken lassen, die man leicht gegen ein ander abmessen kann, so wie die sind, wodurch in der Musik die Konsonanzen ausgedrückt werden.1 Man muss aber hierin nichts geheimnisvolles oder unerklärbares suchen. Der Grund davon wird sich bald offenbar zeigen, wenn man nur die Sache in ihren gehörigen Gesichtspunkt betrachtet.

 Das Verhältnis setzt zwei Größen voraus, weil es in Vergleichung oder Gegeneinanderhaltung derselben besteht. Nun kommt es bei der Größe jedes Teils darauf an, mit was für einer anderen Größe man sie vergleichen solle. Sind diese Größen zu weit aus einander, so hat ihre Gegeneinanderhaltung nicht mehr statt. Man vergleicht die Größe des Mundes oder der Nase, wohl mit der Größe des Gesichts, aber nicht mit der Größe der ganzen Statur. Wenn also ein Gegenstand der Teil eines Hauptteils ist, so vergleicht man ihn mit seinem Hauptteil und mit den Teilen, die zugleich mit ihm Teile eines Teils ausmachen: die Finger mit der Hand, die Hand mit dem Arm, diesen mit dem ganzen Körper und seinen Hauptteilen, den Schenkeln und den Rumpf. Also vergleicht man einerlei Teile mit einander oder die Teile, die unmittelbar zusammen ein Ganzes ausmachen sollen. Dinge, deren Größe weit auseinander ist, können zusammengenommen kein Ganzes ausmachen. Eine Stadt, macht mit einigen darum liegenden Feldern, Hügeln, Büschen, eine Gegend aus. Aber eine Stadt, mit einem kleinen daran stoßenden Garten, macht keine Gegend aus, sondern eine Stadt; der Garten kann wegbleiben, sie bleibt immer eine Stadt. So könnte bei einem Menschen ein Finger zu groß oder zu klein sein oder ganz fehlen und die Person noch immer ein schöner Mensch sein, aber die Hand an der er fehlte, wäre keine schöne Hand mehr.

 Wir sehen hieraus überhaupt, dass man bei dem Urteil über Verhältnisse den Teil, worüber man urteilt notwendig gegen einen anderen Teil, der mit ihm in gleichem Range steht, halten müsse. In der Musik werden die Töne eines von dem Grundton sehr entfernten Akkords nur unter einander vergliechen und nicht mehr gegen einen sehr tief unter ihnen liegenden Grundton gehalten. In der Baukunst vergleicht man die kleineren Glieder nicht mit dem Gebäude, sondern mit dem Gesims oder dem Hauptteile, dessen unmittelbare Teile sie sind.

Notwendig muss hier auch noch angemerkt werden, dass bei Schätzung der Größen die Natur des Gegenstandes, an dem wir sie sehen, in Betrachtung zu ziehen ist. Man würde ein Fenster sehr unproportionirt finden, wenn es acht oder zehnmal höher als breit wäre und doch findet man an einer Säule dieses Verhältnis der Höhe gegen die Dicke gut. Bei dem Fenster haben Höhe und Breite einerlei Zweck, die Vermehrung des Lichts; bei der Säule kommen zwei Sachen in Betrachtung, die Erhebung oder Erhöhung des aufliegenden Teiles und die Festigkeit der Unterstützung. Hierbei entsteht die Frag, ob die Dicke gegen die einmal festgesetzte Höhe groß genug sei. Wäre bei dem Fenster gar nichts festgesetzt als die Menge des einfallenden Lichtes, so wäre unstreitig dieses das beste Verhältnis, wenn die Breite der Höhe gleich wäre, weil beide gleichen Anteil an Vermehrung des Lichts haben. Das aber die Höhe allgemein größer als die Breite genommen wird, hat seinen Grund in der Höhe des zu erleuchtenden Zimmers und nicht darin, dass ein langes Viereck schöner sei als das, dessen Höhe der Breite gleich ist.

 Man sieht hieraus überhaupt, dass das Urteil über Verhältnisse nicht so einfach sei, als sich mancher einbildet und dass es eben nicht bloß darauf ankommt, Zahlen gegen einander zu halten.

 Man hat zu allen Zeiten erkennt, dass der menschliche Körper das vollkommenste Muster der guten Verhältnisse sei. In der Tat sind alle Regeln der vollkommensten Harmonie oder Übereinstimmung daran zu erkennen. Diese vollkommene Form im Ganzen betrachtet, bietet gleich einige Hauptteile dar, von denen keiner über den anderen herrscht, keiner die Aufmerksamkeit so auf sich zieht, dass sie den anderen entginge. Je kleiner ein Hauptteil ist, je mehr hat er Mannigfaltigkeit und Schönheit, wodurch das, was ihm an Größe abgeht, ersetzt wird. Der Kopf als der kleinste Teil hat die größte Schönheit, der Rumpf als der Größte, hat die wenigste Schönheit, dadurch wird das Gefühl gleichsam gezwungen, das Ganze immer auf einmal zu fassen. Eben so genau sind auch die Teile der Hauptteile abgepasst, dass man niemals weiß, welchen man vorzüglich betrachten soll. Die Teile des Gesichtes, Stirn, Wangen, Augen, Nase, Mund, Kinn, folgen derselben Regel; die Augen gewinnen an Reiz, was ihnen an Größe fehlt, um die Aufmerksamkeit an sich zu ziehen, die Stirn und die Wangen, die wegen ihrer ansehnlichen Größe stärker ins Gesicht fallen, haben weniger Reiz und so alles übrige, dass man niemals bei einem Teile stehen bleibt; sondern immer auf das Ganze geführt wird.

 Anstatt also dem Redner, dem Dichter, dem Tonsetzer, dem Maler und dem Baumeister weitläufig zu sagen, wie er in jedem Werk die Hauptteile unter einander und denn die Teile der Teile unter einander in gute Verhältnisse bringen soll, nicht bloß in Verhältnis der Größe und Stärke, sondern auch in die Verhältnisse der Schönheit, der vollkommenen Bearbeitung, des Hellen und Dunkeln und aller anderen Grade leidender Eigenschaften, damit keiner über andre von seiner Art hersche, wollen wir sie alle auf eine fleißige und mit genauer Überlegung begleitete Betrachtung des harmonischen Baues im menschlichen Körper verweisen.

 In dem er aber dieses vollkommene Muster aller guten Verhältnisse studieret, muss er notwendig die eigene Natur und Bestimmung eines jeden Teiles genau vor Augen haben, ehe er von seinem Verhältnis gegen das Ganze sein Urteil fällen kann.

 

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1 S. Konsonanz. Harmonie.

 


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