Der pietistische Charakter


Den Mittelpunkt des Unterrichts, um den sich die übrigen Fächer nur lose herumgruppierten, bildeten also durchaus das Lateinische und die Religion; neben ihnen bedeuteten die Muttersprache, das Französische, Mathematik und Naturwissenschaft nichts oder so gut wie nichts. Das aber, was das Fridericianum von den anderen Lateinschulen der Stadt — dem Altstädtischen und dem Kneiphöfsehen oder Domgymnasium — unterschied, war der pietistische Charakter, der das ganze Leben der Anstalt beseelte. Bestand doch deren Zweck ausgesprochenermaßen darin, dass "einesteils die Untergebenen aus ihrem geistlichen Verderben errettet und das rechtschaffene Christentum ihren Herzen von Jugend auf eingepflanzt, andernteils aber auch ihr zeitliches Wohlsein befördert werden möge". Und lautete doch die grundlegende Bestimmung der Schulgesetze: "Wer die Zeit seiner Jugend wohl anwenden und den Grund seines Glückes auf Erden in der Schule legen will, muß zuvörderst bei allen seinen Handlungen das Andenken an Gott, der überall gegenwärtig ist und vor dem allein ein rechtschaffenes Herz gilt, zu erwecken und zu unterhalten suchen." Deshalb begann und schloß auch, abgesehen von der halbstündigen Frühandacht der in der Anstalt selbst wohnenden Zöglinge, jede Stunde mit einem "erwecklichen und kurtzen" Gebet. Dazu kamen allwöchentlich außer zwei weiteren Erbauungs- und Betstunden für die Pensionäre, noch an einem besonders festzusetzenden Tage vorgenommene Katechisationen durch den Direktor und die regelmäßige einstündige Samstags-Andacht, in der außer Gebet und Gesang eine Ermahnung des Inspektors "sowohl was die Studien als gute Ordnung anlanget, als was sonst nötig ist und die Woche über bemerkt worden", erfolgte, die übrige Zeit aber "zur Erweckung gegen den Sonntag angewandt wird". Dieser Sonntag war natürlich erst recht dem Heile der Seele geweiht. Da wurde von 8—9 in der Schulkirche katechisiert, die Vormittags- wie die Nachmittagspredigt angehört und der Inhalt beider sofort abgefragt. Zum Überfluß fand abends eine nochmalige "Wiederholung" beider Predigten statt, wobei man "auf den Seelenzustand der Jugend sieht, die gehörte Wahrheiten auf sie deutet und ihr Hebreich andringt". Zu diesem regelmäßigen Andachtsbetrieb kamen noch die außerordentlichen religiösen Übungen, wie die bereits vier Wochen vorher beginnenden "Vorbereitungen" auf den Genuß des hl. Abendmahls, mit schriftlichen Gebeten (eins ist noch in den Akten erhalten) und Berichten der Schüler über ihren Seelenzustand und mit ihren besonderen Ermahnungs-, Selbstprüfungs- und "Erweckungs"-Stunden. Kein Wunder, dass das Fridericianum im Volksmunde einfach die "Pietisten"-Schule hieß, kein Wunder auch, dass selbständigeren Naturen wie Kant durch solche Überfütterung auch die an sich durchaus berechtigte Gefühlsseite der Religion vollständig verleidet wurde.


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Seite zuletzt aktualisiert: 22.12.2006 
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